Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
Worte des Feuerwehrmannes, ehe die Leitung unterbrochen wurde.
Ich wusste, dass irgendetwas absolut nicht in Ordnung war. Alice versuchte noch, mich am Verlassen ihres Hauses zu hindern. Aber ich schrie nur erregt:
»Mein Vater ist in großen Schwierigkeiten.«
»David, das kannst du doch gar nicht wissen«, schoss Alice zurück.
»Genau das meine ich doch!«, rief ich und gestikulier-te mit erhobenem Zeigefinger. »Ich habe genug davon, immer im Ungewissen zu leben ... Geheimnisse zu wahren ... auf der Grundlage von Lügen zu leben. Was kann denn daran so schlimm sein, wenn mein Vater Probleme hat?« Ich hielt einen Augenblick inne, während ich mir alles Mögliche in meiner Fantasie ausmalte. »Ich muss jetzt einfach Bescheid wissen«, sagte ich und küsste Alice auf die Stirn.
Ich sprang auf mein Moped und raste ins Zentrum von San Francisco. Auf der Schnellstraße schlängelte ich mich durch den Verkehr und bremste nicht eher, als bis mein Moped in der Gasse neben der Feuerwache 1067 Post Street ausrollte - ebenjener Wache, in der mein Vater, schon seit ich ein Kleinkind war, seinen Dienstsitz hatte.
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Ich parkte mein Moped neben dem Hintereingang der Wache. Als ich den steilen Abhang hinaufging, fiel mir ein vertrautes Gesicht auf. Zuerst dachte ich, dieses Gesicht gehöre Vater. Aber als es lächelte, wusste ich, dass dies nicht Vaters Gesicht sein konnte, denn der lächelte nie. »Mein Gott, Junge! Wie lange ist das schon her? Ich habe euch Jungs ja schon ewig nicht mehr gesehen ... Ich weiß gar nicht, wie lange das schon her ist.«
Ich schüttelte Onkel Lee, dem langjährigen Arbeits-kollegen und besten Freund meines Vaters, die Hand.
»Wo ist Vater?«, fragte ich mit strenger Stimme.
Onkel Lee wandte sich ab. »Ja ... der ist gerade fort.
Er hatte gerade Schichtende.«
»Nein, das stimmt nicht«, rief ich. Ich wusste, dass Onkel Lee log - Schichtwechsel war bei der Feuerwehr am Morgen, nicht mitten am Nachmittag. Ich ging jetzt mit offenem Visier auf Onkel Lee zu. »Onkel Lee, ich habe Vater schon jahrelang nicht mehr gesehen. Ich muss jetzt endlich Bescheid wissen.«
Lee schien einen dicken Kloß im Hals zu haben. Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Dein Vater und ich haben gemeinsam angefangen, das weißt du doch. Und ich muss dir sagen, dein alter Herr war ein verdammt guter Feuerwehrmann ... Es gab Augenblicke, da dachte ich, wir würden nicht heil da wieder rauskommen ... «
Ich spürte, dass jetzt die Wahrheit kommen würde.
Ich begann innerlich den Halt zu verlieren. Meine Augen suchten nach etwas, woran ich mich festhalten konnte, damit ich nicht hinfiel. Ich biss mir auf die Lippen und nickte mit dem Kopf, als wollte ich Onkel Lee sagen, er solle doch endlich mit der Wahrheit herausrücken und mir alles erzählen.
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Lee blinzelte. Er zeigte mir, dass er verstanden hatte. »Dein Vater ... arbeitet nicht mehr bei der Feuerwehr. Stephen - dein Vater - wurde, äh ... er hat um seine vorzeitige Pensionierung gebeten.«
Ich stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, als ich darum kämpfte, meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. »Er lebt also noch! Und er ist okay! Wo ist er?«, sagte ich laut und mit schriller Stimme.
Onkel Lee nahm kein Blatt mehr vor den Mund. Er erzählte mir, dass Vater schon seit über einem Jahr arbeitslos sei. Wegen finanzieller Probleme habe er ständig die Wohnung gewechselt, und manchmal habe er, wie Lee befürchtete, sogar als Obdachloser auf der Straße übernachtet. »David, das ist der Alkohol. Der bringt ihn um«, sagte er mit sanfter, aber fester Stimme.
»Gut, aber sag mir doch, wo ist er jetzt?«, flehte ich ihn an.
»Ich weiß es nicht, mein Sohn. Ich sehe ihn nur noch, wenn er ein paar Dollar braucht.« Onkel Lee hielt einen Augenblick inne, um sich zu räuspern. Dann sah er mich so an wie nie zuvor. »David, sei nicht zu hart zu deinem alten Herrn. Er hatte niemals wirklich eine Familie. Er war ein junger Mann, als er zum ersten Mal hier in diese Stadt kam. Er hat euch Jungs geliebt, aber seine Ehe hat ihn kaputtgemacht. Auch sein Job ist ihm nicht leicht gefallen. Aber der hat ihm wenigstens noch Halt gegeben. Dein Vater hat für die Feuerwache gelebt. Aber seine Trinkerei ... das ist alles, was er noch kann. «
»Ich danke dir, Onkel Lee«, sagte ich, als ich ihm die Hände schüttelte. »Danke, dass du mich nicht im Stich gelassen hast. Jetzt weiß ich wenigstens Bescheid.«
Onkel Lee brachte mich noch
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