Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
in den Bus setzte, nahm er mich beiseite. »Ich will dir was zeigen«, sagte er mit Stolz, als er hinter sich in die Tasche griff und ein schwarzes Lederetui herauszog. Darauf war als Emblem ein Feuerwehrschild eingeprägt. Vater lächelte, als er das Etui öffnete und ein helles, glänzendes Feuerwehr-Dienstabzeichen zum Vorschein kam. »Hier, halt das mal«, sagte er, als er das Abzeichen sanft in meine offenen Hände legte.
»R-1522«, las ich laut vor. Wie ich wusste, bedeutete das R, dass Vater wirklich Ruheständler war und nicht, wie ich befürchtet hatte, seinen Job durch Entlassung verloren hatte. Die Ziffern standen für Vaters Personalnummer, die ihm schon beim Dienstantritt zugeteilt worden war.
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»Das ist alles, was ich jetzt noch habe. Das ist eine der wenigen Sachen in meinem Leben, die ich nicht total vermurkst habe. Das kann mir niemand mehr nehmen«, sagte er mit Überzeugungskraft und zeigte dabei auf sein Dienstabzeichen. »Eines Tages wirst du das verstehen.«
Ich nickte. Ich verstand. Ich hatte es schon immer verstanden. Früher hatte ich mir Vater vorgestellt, wie er in seiner schmucken dunkelblauen
Feuerwehruniform auf ein Podium marschierte, um sein Ehrenabzeichen entgegenzunehmen, während die begeisterte Menge unablässig seinen Namen rief und während seine schöne Frau mit der Familie an seiner Seite stand. Als Kind hatte ich von Vaters großem Tag geträumt.
Als ich ihm jetzt seine Lebensleistung in Form der Dienstmarke zurückgab, sah ich ihm in die Augen. »Ich bin stolz auf dich, Vater«, sagte ich und sah das Abzeichen nochmals an. »Ich bin wirklich stolz.« Für Sekundenbruchteile strahlten Vaters Augen. Wenigstens einen Augenblick lang war sein Schmerz
verschwunden.
Ein paar Minuten später hielt mich Vater auf den Stu-fen des Busses nochmals an. Er zögerte. Sein Blick war gesenkt. »Mach, dass du hier wegkommst«, murmelte er.
»David, geh so weit weg von hier, wie du kannst. Dein Bruder Ronald ist zur Armee gegangen, und du hast auch schon fast das Alter. Sieh zu, dass du wegkommst«, sagte Vater, als er mir zum Abschied auf die Schulter klopfte.
Und als er sich umwandte, waren seine letzten Worte:
»Tu, was du tun musst. Damit du nicht am Ende so dastehst wie ich.«
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Ich presste mein Gesicht an die Fensterscheibe des Busses und strengte meine Augen an, um zu sehen, wie Vater wieder in der Menge verschwand. Am liebsten wäre ich aus dem Bus gesprungen, um ihn zu umarmen, um seine Hand zu halten und so an seiner Seite zu sitzen, wie ich es als Kind getan hatte, wenn er abends seine Zeitung las - der Vater, den ich vor so vielen Jahren gekannt hatte. Ich wollte, dass er Teil meines Lebens sei, ich wollte einfach einen Vater haben. Als sich der Bus mühsam aus San Francisco herausschleppte, verlor ich die Kontrolle über meine Gefühle. Innerlich musste ich weinen. Ich ballte die Hände zu Fäusten, als sich der immense Druck, der sich jahrelang in meiner Seele aufgestaut hatte, löste und von mir wich. Mir wurde klar, welch ein einsames Leben Vater gelebt hatte. Ich betete von ganzem Herzen, Gott möge ihn behüten, ihn nachts warm halten und Leid von ihm abwenden. Schuldgefühle lasteten wie Felsen auf meinen Schultern. Alles in meines Vaters Leben verursachte mir schlimme Gefühle.
Nach dem Besuch bei Onkel Lee hatte ich mir in meiner Fantasie ausgemalt, dass ich mir vielleicht ein Haus in Guerneville kaufen und Vater dort einziehen lassen könnte. Nur so könnte ich helfen, ihm seine Schmerzen zu erleichtern, nur so könnten wir als Vater und Sohn etwas Zeit miteinander verbringen. Doch wie immer wusste ich, dass Fantasien Träume sind, Leben hingegen Realität bedeutet. Während der ganzen Busfahrt zu Alices Haus weinte ich innerlich. Ich wusste, dass Vater nicht mehr lange zu leben hatte, und mit Schrecken wurde mir klar, dass ich ihn niemals wieder sehen würde.
Ein paar Monate später, im Sommer 1978, wurde ich, nach Dutzenden von Vorstellungsgesprächen, als Auto-269
verkäufer eingestellt. Autos zu verkaufen war eine mental sehr erschöpfende Tätigkeit. Am einen Tag versuchten uns die Manager da oben mit Drohungen Druck zu machen, am nächsten köderten sie uns mit finanziellen Anreizen. Der Wettbewerb war gnadenlos, aber irgendwie schaffte ich es, meinen Kopf über Wasser zu halten. An freien Wochenenden eilte ich nach Duinsmoore, um zu vergessen, dass ich jetzt erwachsen war. Paul, Dave und ich suchten nach neuen Abenteuern - jetzt auf vier
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