Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
bereitet -
besonders den Catanzes während meiner kritischen
»Anpassungsphase«. Sie haben mich vor dem fast sicheren Untergang bewahrt. Die Turnboughs waren ein Geschenk des Himmels - mit etwas so Einfachem wie der Unterweisung, wie man als ganz normales Kind geht, redet und handelt. Zugleich versicherten sie mir immer wieder meinen Wert und meine Würde: Ich hätte Respekt verdient und könne jede Herausforderung, die das Leben mit sich bringe, bewältigen.
Genau das ist die Arbeit, die Pflegeeltern verrichten!
Als Erwachsener werde ich wohl nie verstehen, warum diese Menschen so viel auf sich nehmen. Man kann wohl kaum ergründen, wie es ist, sich mit einem Kind auseinander zu setzen, das aus solchen Verhältnissen kommt, wie ich sie damals hinter mir hatte. Und dann kommt in einer durchschnittlichen Pflegefamilie ja noch ein halbes Dutzend anderer Pflegekinder hinzu!
Trotzdem erfährt die Öffentlichkeit nur selten, wenn überhaupt, von der Liebe und dem Mitgefühl der Pflegeeltern - ja in Amerika wird dieser Personenkreis sogar mit einer Abkürzung belegt, als habe man es mit einer tödlichen Epidemie zu tun: »F parents« statt
»foster parents«. Menschen, die so denken, nehmen auch an, dass Pflegeeltern all das »nur um des Geldes willen tun«, dass sie wenig mehr seien als Lohn- oder Söldnereltern - allein darauf aus, aus den Problemen der Gesellschaft Profit zu schlagen. Wenn das stimmen sollte, wie lässt sich dann erklären, dass im Staat Iowa 65 Prozent der Pflegeeltern ihre Schützlinge schließlich adoptieren, obwohl sie anschließend vom Staat kein 283
Geld mehr bekommen? Wie die meisten Pflegeeltern wurden sie ein Opfer der Liebe. Die Adoption ist die höchste Ehre, die man einem Kind erweisen kann, das sich danach sehnt, vollwertiges Mitglied einer Familie zu werden.
Doch die Gesellschaft wird fast nie über solche Geschichten informiert. Vielmehr ist es anscheinend so, dass Pflegeeltern nur dann Aufmerksamkeit erregen, wenn dem Pflegekind innerhalb oder außerhalb der Familie etwas zustößt. Dann »informiert« die Presse die Öffentlichkeit mit großem Aufwand darüber, dass ein Kind, das bereits Opfer war, nochmals zum Opfer gemacht wurde. Dann werden Untersuchungen angestellt, und höchstwahrscheinlich kommt dabei heraus, dass die betreffenden Pflegeeltern als Pflegeeltern wohl doch nicht geeignet waren. Welche Überraschung! Solche Publicity legt vielen die Frage nahe, ob das »System« das Kind abermals im Stich gelassen habe. Wohl kaum!
Ich möchte nicht missverstanden werden: Einem Kind schweres Leid zuzufügen ist immer verwerflich und sollte niemals toleriert werden! Aber solche Fälle sind selten. Trotzdem unterminieren sie die unglaublich wertvolle Arbeit von Jugendfürsorge und Pflegefamilien.
Die Frage, die sich bei ernsten Vorfällen wirklich stellt, lautet: Wie konnten solche Erwachsenen überhaupt eine Lizenz als Pflegeeltern bekommen? Und die Antwort könnte lauten: Einfach darum, weil so viele Kinder dringend in Pflegefamilien untergebracht werden müssen - möglichst nicht erst morgen, sondern schon gestern. Auch hier setzen gesellschaftliche Missstände das »System« einer Zerreißprobe aus. Es gibt buchstäblich Millionen von Kindern in Not, aber nur ein paar tausend Pflegefamilien. Eine Lösung liegt sicher 284
darin, Erwachsene, die Pflegeeltern werden wollen, noch genauer zu durchleuchten, einschließlich ihres Hintergrunds - so wie man ja auch Bewerber für den Staatsdienst oder für Regierungsämter genau unter die Lupe nimmt. Vielleicht könnten auch Trainingsprogram-me helfen, in denen geübt wird, wie man den endlosen und unterschiedlichen Bedürfnissen von Pflegekindern gerecht wird.
Andererseits war die Presse aber auch so nett, Charlotte Lopez gebührend zu würdigen, die 15 ihrer 17
Lebensjahre in Pflegefamilien verbracht hatte, als sie 1993 zur Miss Teen USA gewählt wurde. Ich war von Charlottes Selbstbewusstsein und innerer Schönheit außerordentlich fasziniert. Und ich frage mich, woher Miss Lopez wohl ihr Selbstwertgefühl und ihre innere Ausgeglichenheit bezogen hat. Vielleicht von ihrer Pflegemutter Janet Henry? Man kann sich die endlosen Stunden, die Janet und Charlotte gemeinsam verbracht haben, lebhaft vorstellen. Und ich kann nur vermuten, dass Charlottes Hauptsorge nicht so sehr ihrem Lächeln galt oder ihrem anmutigen Gang auf dem Laufsteg als ihren inneren Ängsten - Ängsten, die eigentlich alle Pflegekinder haben, wenn sie
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