Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
Der flache grüne Fluss wirkt transparent.
Nur ein leises Plätschern erinnert daran, dass dieses Wasser real ist. Als die Sonne hinter einem Hügel verschwindet, spiegelt sich ein Weihnachtsbaum von jenseits des Flusses im Wasser. Nebel senkt sich von den Hügeln. Wortlos fassen Stephen und ich uns an den Händen. Als unser Griff fester wird, spüre ich einen Kloß im Hals.
Stephen klammert sich an meinem Bein fest. »Ich liebe dich, Papa. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! «
Vor Jahren hatte ich echte Zweifel, ob ich diese Misere lebend überstehen könnte. In meinem früheren Leben hatte ich nur sehr wenig. Doch heute - in diesem Augenblick, da ich in meinem gelobten Land stehe -
habe ich alles, was man sich nur wünschen kann: ein echtes Leben und die Liebe meines Sohnes. Stephen und ich, wir beiden sind eine Familie.
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Überlegungen zum Thema
Pflegeeltern
David Pelzer
Pflegekind
Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass ich das Martyrium nicht überlebt hätte, wenn ich noch wesentlich länger bei meiner leiblichen Mutter 280
geblieben wäre. Mein Leben in Pflegefamilien war jedoch nicht nur ein Ausweg, sondern es eröffnete mir auch eine vollkommen neue Welt. Bisweilen hatte ich extreme Anpassungsschwierigkeiten, weil ich nie genau wusste, womit ich zu rechnen hatte.
Als erwachsener Überlebender von Misshandlungen im Kindesalter bin ich dem »System«, das so viele in unserer Gesellschaft gnadenlos lächerlich machen, für immer dankbar. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, die Schwächen des Sozialsystems, der Jugendfürsorge und der Institution Pflegefamilie, mit allem, was dazugehört, zur Zielscheibe zu machen. Aber darum ging es mir in meiner Lebensgeschichte nicht. Vielmehr wollte ich dem Leser eine Welt zeigen, in die die Allgemeinheit nur selten Einblick gewinnt - und zwar mit den Augen des gequälten, auf Scheitern und Versagen programmierten Kindes, das von Amts wegen in die Obhut anderer »gegeben« wird.
Meine Sozialarbeiterin, Ms. Gold, wird mir auf immer im Gedächtnis bleiben, weil sie sich um meine Sicherheit echte Sorgen machte. Obwohl ich mein Bemühen, meine Aussagen wenige Tage vor der entscheidenden Verhandlung zu widerrufen, für einzigartig hielt, ist Derartiges für die meisten Sozialarbeiter in solchen Ressorts fast alltäglich. Nur sehr wenige Menschen wissen wirklich, was die Mitarbeiter des Jugendamtes durchmachen.
Viele Leute glauben, Sozialarbeiter hätten nichts anderes im Sinn, als Familien zu zerstören, in Privatwohnungen einzudringen und liebevollen Eltern deren Kinder aus den Armen zu reißen. Andererseits stehen Sozialarbeiter aber auch unter dem Verdacht, niemals zur Stelle zu sein, wenn es um echte Fälle von 281
Kindesmisshandlung geht. In Wirklichkeit ist die Situation viel erschreckender. Im Jahre 1973 gehörte ich als misshandeltes Kind in Kalifornien zu mehreren tausend aktenkundigen Fällen. Zwei Jahrzehnte später wurden im selben Staat jedoch mehr als 616 000 Fälle bekannt - pro Jahr!
Leider gibt es viel zu wenig Sozialarbeiter, die sich um den nicht enden wollenden Strom von »gefährdeten Kindern und Jugendlichen« kümmern können. Sie müssen deshalb nach dem Dringlichkeitsprinzip vorgehen: Diejenigen Minderjährigen, die am stärksten gefährdet sind, kommen als erste dran. Läuft allerdings erst einmal ein Verfahren, dürfen der Allgemeinheit keinerlei Informationen darüber gegeben werden, wie weit eine Untersuchung gediehen ist. Das verursacht bei denen, die den Mut hatten, das Verfahren in Gang zu bringen, Stress und mag sie auch zu der Schlussfolgerung verleiten, das Jugendamt ziehe Fälle niemals konsequent bis zum Ende durch. Doch auch hier gilt das Grundprinzip aller sozialstaatlichen Fürsorge: die Privatsphäre und die Sicherheit der Betroffenen, hier also der Minderjährigen, zu gewährleisten. Es muss wohl nicht eigens betont werden, dass bei diesen »Engeln« auch das so genannte »Burnout-Syndrom« ein Rolle spielt, dass sie, deren einziges Ziel darin besteht, das Leben gefährdeter Kinder zu retten, oft ausgebrannt sind.
Was nun meine eigenen Pflegeeltern angeht, so waren sie es, die mich zu der Persönlichkeit formten, die ich heute bin. Sie nahmen einen scheußlichen Problemfall auf und machten aus einem total verängstigten Kind ein normal funktionierendes, verantwortungsbewusstes menschliches Wesen. Ich verdanke ihnen allen sehr viel. Es tut mir Leid, aber ich 282
habe meinen Pflegeeltern die absolute Hölle
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