Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
Force.
Irgendwie hatte Mutter davon erfahren. Sie rief mich am Tag vor dem Beginn meiner Grundausbildung an. Ihre 272
Stimme war nicht die der bösen Mutter, sondern die meiner lieben Mama vor vielen, vielen Jahren. Ich konnte Mamas Gesicht am anderen Ende der Leitung fast vor mir sehen. Sie weinte. Sie behauptete, sie habe die ganze Zeit immer an mich gedacht und sie habe immer nur mein Bestes gewollt. Wir sprachen über eine Stunde lang miteinander, und ich strengte meine Ohren ganz besonders an. Schließlich hoffte ich ja, die drei wichtigsten Wörter zu hören, die ich schon mein ganzes Leben lang aus Mutters Mund hatte hören wollen.
Alice stand neben mir, als ich ins Telefon weinte. Ich wollte bei meiner Mama sein. Ich wollte ihr Gesicht sehen - in der Hoffnung, diese drei Wörter zu hören zu bekommen. Ich merkte, dass ich auf dem besten Wege war, mich zum Narren zu machen, aber ich hatte das Gefühl, es wenigstens noch einmal versuchen zu müssen. Alice benötigte ihre ganze Überzeugungskraft, um mich von einem Besuch bei Mutter abzuhalten.
Doch in meinem Herzen wusste ich, dass Mutter mit meinen Emotionen nur spielte. Seit über 18 Jahren hatte ich nach etwas verlangt, das ich, wie ich wusste, niemals bekommen würde: Mutters Liebe. Ohne ein Wort zu sagen, öffnete Alice ihre Arme. Und als sie mich darin hielt, wurde mir plötzlich klar, dass meine lebenslange Suche nach Liebe und Geborgenheit in den Armen einer Pflegemutter an ihr Ziel gekommen war.
Am nächsten Tag richtete ich mich zu voller Größe auf, als ich Harold in die blauen Augen schaute. »Also, mach's gut, mein Sohn«, sagte er.
»Ja, das will ich. Passt nur gut auf. Ich werde euch stolz machen. «
Alice stand neben ihrem Mann. »Du weißt, wer du bist. Du hast es schon immer gewusst«, sagte sie, als 273
sie ihre Hand ausstreckte und mir einen glänzenden gelben Hausschlüssel gab. »Hier ist dein Zuhause. Das ist es immer gewesen und wird es immer bleiben.«
Ich steckte den Haustürschlüssel in die Tasche.
Nachdem ich Alice, meiner Mutter, einen Kuss gegeben und Harold, meinem Vater, die Hand geschüttelt hatte, machte ich den Mund auf, um noch etwas Passendes zu sagen. Aber in diesem wichtigen Augenblick bedurfte es keiner Worte, denn wir wussten alle drei, was wir fühlten -die Liebe einer Familie.
Ein paar Stunden später, als die Boeing 727 von Kalifornien abgeflogen war, schloss ich meine Augen ein letztes Mal als verlorener Sohn. Ich stellte mir Michael Marsh, den >Sergeant<, in seiner ganzen Pracht und Größe vor, wie er mich, die Augen gen Himmel gerichtet, gefragt hatte: »Na, Luftwaffenrekrut Pelzer, noch irgendwelche Gedanken?«
»Ja«, hatte ich erwidert. »Ich hab' ein wenig Angst, aber ich glaube, ich könnte sie zu meinem Vorteil nutzen. Ich hab' meine Pläne und weiß genau, was ich will. Ich konzentriere mich darauf, und ich weiß, ich werd's schaffen. «
Mein Mentor hatte mich angeschaut und gelächelt.
»Alles Gute, Pelz-Mann. Nimm dir was.«
Im Flugzeug, bei meinem allerersten Flug überhaupt, öffnete ich die Augen zum ersten Mal als ein Mann namens Dave. Stillvergnügt sagte ich mir: »Jetzt geht das Abenteuer erst richtig los!«
274
Epilog
Dezember 1993, Sonoma County, Kalifornien
Ich bin allein. Äußerlich ist mir so kalt, dass mein ganzer Körper zittert. Meine Fingerspitzen sind schon eine ganze Zeit lang taub. Beim Ausatmen wird aus 275
meinem Atem frostiger Nebel. In der Ferne kann ich das Gegrummel dunkelgrauer Wolken hören, die aufeinander prallen. Ein paar Sekunden später hallt Donner von den nahe gelegenen Hügeln wider. Ich kann einen Wolkenbruch heranziehen sehen.
Aber das macht mir nichts aus. Ich sitze auf einem alten, verrotteten Holzstamm und vor mir erstreckt sich ein langer, leerer Strand. Ich liebe es, dem grandiosen Naturschauspiel der mächtigen dunkelgrünen Wellen zuzusehen, die sich verwirbeln, ehe sie amStrand aufschlagen. Meine Brille ist von einer salzigen Sprühschicht bedeckt.
Innerlich ist mir warm. Ich habe keine Angst mehr davor, allein zu sein. Ich liebe es, eine Zeit lang mit mir allein zu sein.
Über mir kreischen sich Möwen an, die den Strand nach etwas Essbarem absuchen. Eine paar Augenblicke später kämpft eine einzelne Möwe darum, sich in der Luft zu halten. So heftig der Vogel auch mit den Flügeln schlägt, er kann mit den anderen nicht mithalten, geschweige denn die Flughöhe halten. Ohne Vorwarnungkracht die Möwe mit dem Schnabel voran in
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