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Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc

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Titel: Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: jojox
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den Sand.
    Der Vogel richtet sich mühsam auf und hüpft auf nur einem mit Schwimmflossen versehenen orangefarbenen Fuß herum. Nach kurzer Suche findet die Möwe ein wenig Futter. Doch plötzlich kehrt wie aus dem Nichts der Möwenschwarm zurück, kreist über dem Strand und stößt dann hinab, um die schwächere Möwe mit den Schnäbeln anzugreifen und ihr das bisschen Futter zu entreißen. Die Möwe scheint zu wissen, dass sie nicht fliehen kann, also verteidigt sie sich und pickt mit wütender Intensität auf die anderen Vögel ein. Nach einem Augenblick ist der Kampf vorbei.

    276

    Der Vogelschwarm entfernt sich, auf der Suche nach einem leichteren Opfer.
    Die einzelne Möwe kreischt den Schwarm an, als wolle sie ihm signalisieren, dass sie gewonnen habe.
    Dann wendet sie sich mit einer gekreischten Warnung an mich. Beim Studium der Bewegungen dieser Möwe erinnere ich mich daran, wie der Kampf dieses Vogels die Herausforderungen widerspiegelt, die ich selbst als Pflegekind zu bestehen hatte. Damals war mir nichts wichtiger als der Wunsch, akzeptiert zu werden, und das Bemühen, Antworten auf die Fragen meiner Vergangenheit zu finden. Doch je reifer ich innerlich wurde, desto deutlicher wurde mir, dass ich meinen eigenen Weg durchs Leben finden musste. Ich lernte auch, mich damit abzufinden, dass ich nicht auf all meine Fragen Antworten finden konnte. Doch wie so vieles in meinem Leben schienen mir auch die gewünschten Antworten mühelos zuzufallen, nachdem ich in die US Air Force eingetreten war, wo ich meinen lebenslangen Traum vom Fliegen realisieren konnte.
    Für mich als Erwachsener schloss sich der Kreis. Unter anderem schaffte ich es, meine Mutter zu besuchen und ihr die wichtigste Frage meines Lebens zu stellen: Warum?
    Mutters eigenes Geheimnis ließ mich das Leben, das ich führte, nur noch mehr genießen.
    Das Kreischen der Seemöwe reißt mich aus meiner Trance. Vor mir zittern meine Hände, aber nicht vor Kälte. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht.
    Dabei weine ich nicht so sehr meinetwegen als wegen meiner Mutter. Mein Weinen wird so heftig, dass ich am ganzen Körper zittere. Ich kann einfach nicht mehr aufhören. Ich weine um die Mutter und den Vater, die ich nie hatte, und um die Schande des 277

    Familiengeheimnisses. Ich bin ganz aufgelöst, weil ich manchmal Zweifel daran habe, ob ich im Leben anderer wirklich etwas gelte. Und ich fühle, dass ich die Anerkennung, die mir zuteil geworden ist, nicht verdient habe, dass ich ihrer nicht wert bin.
    Ich weine, um alles aus mir herauszulassen.
    Ich schließe die Augen und spreche schnell ein Gebet.
    Ich bitte um die Weisheit, ein besserer, stärkerer Mensch zu werden. Als ich aufstehe und auf den dunkelgrünen Ozean hinaussehe, fühle ich mich innerlich gereinigt und befreit.
    Es ist Zeit zum Aufbruch.
    Nach einer entspannten Fahrt mit heruntergelassenen Fensterscheiben, wobei ich mir Secret Story von Pat Metheny anhöre, parke ich meinen Jeep mit Allradantrieb vor meiner zweiten Heimat - der Rio Villa in Monte Rio. Die Besitzer, Ric und Don, winken mir zu, während sie sich auf die Ankunft der Gäste vorbereiten.
    Die gelassene, klare Schönheit der Rio Villa raubt mir immer noch den Atem. Schon seit Jahren geben sich Ric und Don ganz besondere Mühe, meinem Sohn Stephen und mir das Gefühl zu vermitteln, dass wir Teil ihrer Familie sind. Willkommen zu sein bedeutet mir unendlich viel.
    Nachdem ich Stephen beim Ringkampf zu Boden gebracht habe, schlingt er mir die Arme um den Hals.
    »Alles in Ordnung bei dir? «, fragt er. Obwohl er noch ein Kind ist, ist Stephens Sensibilität in vielerlei Hinsicht seinen Jahren weit voraus. Manchmal bin ich erstaunt, wie sehr er meine innersten Gefühle erspüren kann.
    Stephen ist nicht nur mein Sohn, sondern auch einer meiner engsten Freunde.
    Wir beiden verbringen den Rest des Tages damit, aus vielfarbigen Creepy-Crawler-Plastikbausteinen etwas 278

    Schönes zu bauen. Wir spielen » Sorry « und »
    Monopoly «‚ immer und immer wieder. Schnell muss ich entdecken, dass meine jahrelange Ausbildung als Militärstratege dem Denken eines rücksichtslosen Siebenjährigen nicht gewachsen ist, der einfach Parkstraße und Schlossallee kauft und Hotels darauf setzt. (Ich habe bei Stephen immer noch Mietschulden.) Nach mehreren vernichtenden »Sorry«-Runden gehen Stephen und ich gemeinsam zur Terrasse am Russian River hinab. Dichter Holzfeuergeruch vermischt sich mit dem süßen Duft der Redwoodbäume.

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