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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Mann.« Unter einem Arm hielt sie die Seidenraupenkiste, die nicht zum Verkauf stand. Als sie das Porträt des Patriarchen sah, ächzte sie entsetzt. »Haben wir nicht schon Pech genug, dass du den Patriarchen verkaufen willst?«
    Sie schnappte es und trug es ins Haus. Im weiteren Verlauf des Tages blieb sie in der Küche, außerstande mit anzusehen, wie die kunterbunte Horde von Flohmarktgeiern sich über ihre persönliche Habe hermachte. Darunter waren Freizeitantiqui tätenhändler aus den Vororten, die ihre Hunde mitbrachten, vom Pech verfolgte Familien, die Stühle aufs Dach von ramponierten Autos schnürten, und wählerische Männerpaare, die alles drehten und wendeten, um nach Markenzeichen zu sehen. Desdemona hätte sich nicht mehr geschämt, wenn sie selbst zum Verkauf gestanden hätte, nackt auf dem grünen Sofa ausgestellt, ein Preisschildchen am Fuß. Nachdem alles verkauft oder verschenkt war, fuhr Milton die restliche Habe meiner Großeltern in einem Mietlaster die zwölf Straßen zur Seminole Street.
    Damit sie ihre Privatsphäre hatten, bekamen meine Großeltern die Mansarde angeboten. Auf die Gefahr hin, sich zu verletzen, trugen mein Vater und Jimmy Papanikolas alles die Geheimtreppe hinter der Tapetentür hinauf. In den spitzen Raum schleppten sie das zerlegte Bett meiner Großeltern, die Lederottomane, den Messingcouchtisch und Leftys Rembetikaplatten. Um Frieden mit seiner Frau zu schließen, brachte mein Großvater den ersten der zahlreichen Sittiche nach Hause, die sie über die Jahre haben sollten, und allmählich schufen sich Desdemona und Lefty hoch über uns allen ihr vorletztes Zuhause. Während der folgenden neun Jahre klagte Desdemona über die beengten Verhältnisse, wenn sie die Treppe hinabstieg, und über Schmerzen in den Beinen; aber bot mein Vater ihr an, sie könne doch nach unten ziehen, lehnte sie ab. Meiner Ansicht nach wohnte sie gern in der Mansarde, weil die schwindelnde Höhe da oben sie an den Olymp erinnerte. Das Mansardenfenster gewährte einen schönen Blick (nicht auf Sultansgräber, sondern auf die Edison- Werke), und wenn sie das Fenster offen ließ, wehte der Wind herein wie vormals in Bithynios. In der Mansarde kehrten Desdemona und Lefty zu ihren Ursprüngen zurück.
    So wie meine Geschichte.
    Denn nun halten Pleitegeier, mein fünf Jahre alter Bruder, und Jimmy Papanikolas jeweils ein rotes Ei in der Hand. Eine Schale auf dem Esszimmertisch enthält weitere Eier, alle in der Farbe von Christi Blut. Rote Eier sind auf dem Kaminsims aufgereiht. Sie hängen in Netzsäckchen über Türen.
    Zeus befreite alles Lebende aus einem Ei. Ex ovo omnia. Das Weiß flog auf und wurde der Himmel, der Dotter stieg ab in die Erde. Und am griechischen Osterfest spielen wir bis heute das Eierstoßspiel. Jimmy Papanikolas hält, passiv, sein Ei, und Pleitegeier rammt sein Ei dagegen. Immer zerbricht nur eines.
    »Gewonnen!«, schreit Pleitegeier. Jetzt wählt Milton ein Ei aus der Schale. »Das sieht doch ganz gut aus. Robust wie ein Brinks-Laster.« Er hält es von sich weg. Pleitegeier macht sich bereit, es zu rammen. Aber bevor etwas geschieht, tippt meine Mutter meinem Vater auf die Schulter. Sie hat ein Thermometer im Mund.
    Während unten das Essgeschirr vom Tisch geräumt wird, steigen meine Eltern Hand in Hand zum Schlafzimmer hinauf. Während Desdemona ihr Ei gegen Leftys rammt, werfen meine Eltern ein striktes Minimum an Kleidung ab. Während Sourmelina, über die Ferien aus New Mexico angereist, das Eierspiel mit Mrs. Watson spielt, stöhnt mein Vater leise auf, rollt sich von meiner Mutter und erklärt: »Das dürfte genügen.«
    Im Schlafzimmer wird es still. In meiner Mutter schwimmen eine Milliarde Spermien stromauf, die männlichen voraus. Sie tragen nicht nur Anweisungen bezüglich Augenfarbe, Größe, Nasenform, Enzymproduktion, Mikrophagenresistenz, sondern auch eine Geschichte mit sich. Vor einem schwarzen Hintergrund schwimmen sie, und ein langer weißer Seidenfaden wickelt sich ab. Der Faden begann an einem Tag vor zweihundertfünfzig Jahren, als die Biologiegötter zu ihrem Ergötzen mit einem Gen auf dem Chromosom fünf eines Babys herumspielten. Das Baby gab diese Mutation an seinen Sohn weiter, der sie an seine zwei Töchter weitergab, die sie an drei ihrer Kinder weitergaben (meine Ur-ur-ur- usw.), bis es schließlich in den Körpern meiner Großeltern landete. Per Anhalter stieg das Gen von einem Berg herab und ließ ein Dorf zurück. Es wurde in einer

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