Middlesex
begann mein Großvater West-Side-Lotto zu spielen. Er fing bescheiden an. Kleine Einsätze von zwei, drei Dollar. Einige Wochen später erhöhte er auf zehn, um seine Verluste wettzumachen. Täglich setzte er einen Teil der Einnahmen aus dem Restaurant. An einem Tag gewann er, am nächsten ging er aufs Ganze und verlor. Umgeben von Wärmflaschen und Einlaufbeuteln, setzte er seine Wetten. Umgeben von Hustenmedizin und Lippenherpessalben, spielte er bald einen gig, also drei Zahlen auf einmal. Wie damals in Bursa füllten sich seine Taschen wieder mit Papierschnipseln. Neben einem Datum notierte er sich die Zahlen, die er an jenem Tag gespielt hatte, damit sich keine wiederholte. Er spielte Miltons Geburtstag, Desdemonas Geburtstag, das Datum der griechischen Unabhängigkeit minus der letzten Ziffer, das Jahr des Brandes von Smyrna. Desdemona, die die Schnipsel in der Wäsche fand, glaubte, sie hätten mit dem neuen Restaurant zu tun. »Mein Mann, der Millionär«, sagte sie und träumte vom Ruhestand in Florida.
Zum ersten Mal überhaupt zog Lefty Desdemonas Traumbuch zurate, da er hoffte, auf dem Abakus seines Unterbewusstseins eine Gewinnzahl zu berechnen. Er achtete auf die ganzen Zahlen, die ihm in seinen Träumen erschienen. Vielen der Schwarzen, die Sanitätsbedarf Rubsamen frequentierten, fiel auf, dass mein Großvater sich mit dem Traumbuch beschäftigte, und nachdem er zwei Wochen hintereinander gewonnen hatte, verbreitete es sich wie ein Lauffeuer. Das führte zu dem einzigen Beitrag, den die Griechen je zu der afroamerikanischen Kultur geleistet haben (abgesehen vom Tragen von Goldmedaillen), denn die Schwarzen in Detroit kauften nun ebenfalls Traumbücher. Die Atlantis Publishing Company ließ die Bücher ins Englische übersetzen und lieferte sie in alle größeren Städte Amerikas. Eine kurze Zeit lang hingen ältere farbige Frauen dem gleichen Aberglauben an wie meine Großmutter, indem sie beispielsweise glaubten, ein rennender Hase bedeute, man komme zu Geld, oder eine Amsel auf einer Telefonleitung sage voraus, dass bald jemand sterbe.
»Bringst du das Geld zur Bank?«, fragte Milton, als er seinen Vater die Kasse leeren sah.
»Ja, zur Bank.« Und Lefty ging tatsächlich zur Bank. Er ging hin, um Geld von seinem Sparkonto abzuheben, damit er seine beständige Attacke auf alle neunhundertneunundneunzig möglichen Permutationen einer dreistelligen Variablen fortsetzen konnte. Verlor er, war ihm elend zumute. Dann wollte er aufhören. Wollte nach Hause gehen und Desdemona alles gestehen. Das einzige Gegengift war die Aussicht, am nächsten Tag zu gewinnen. Gut möglich, dass beim Lottospiel meines Großvaters auch eine Spur Selbstzerstörung eine Rolle spielte. Von den Schuldgefühlen eines Überlebenden belastet, überließ er sich den willkürlichen Kräften des Universums, versuchte sich dafür zu bestrafen, dass er noch am Leben war. Vor allem aber füllte das Spielen seine leeren Tage aus.
Ich allein sah von der privaten Loge meines Ur-Eis aus, was da vor sich ging. Milton hatte viel zu viel im Diner zu tun, um etwas zu bemerken. Tessie war viel zu sehr mit Pleitegeier beschäftigt, um etwas zu bemerken. Sourmelina hätte vielleicht etwas bemerken können, aber in jenen Jahren zeigte sie sich nur selten bei uns. 1953 hatte Tante Lina bei einem Treffen der Theosophischen Gesellschaft eine Frau namens Mrs. Evelyn Watson kennen gelernt. Mrs. Watson war zu der Theosophischen Gesellschaft in der Hoffnung gekommen, Kontakt mit ihrem verstorbenen Mann aufnehmen zu können, hatte jedoch bald das Interesse an einer Kommunikation mit der Geisterwelt verloren und lieber mit Sourmelina in natura gewispert. In einem schockierenden Tempo hatte Tante Lina dann ihre Arbeit im Blumenladen aufgegeben und war mit Mrs. Watson in den Südwesten gezogen. Seitdem schickte sie meinen Eltern jedes Weihnachten ein Geschenkpaket mit scharfer Soße, einem blühenden Kaktus und einem Foto von Mrs. Watson und sich vor irgendeinem nationalen Monument.
(Ein noch existierendes Bild zeigt das Paar in einer Zeremonienhöhle der Anasazi -Indianer in Bandelier; Mrs. Watson schaut ebenso runzlig-weise wie Georgia O'Keefe, während Lina, einen gewaltigen Sonnenhut auf dem Kopf, gerade eine Leiter in eine kiva hinabsteigt.)
Was Desdemona betrifft, so erlebte sie von Mitte bis Ende fünfzig eine kurze und vollkommen untypische Phase der Zufriedenheit. Ihr Sohn war unverletzt aus einem weiteren Krieg zurückgekehrt. (Der heilige
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