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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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brennenden Stadt eingeschlossen und entrann mit schlechtem Französisch. Bei der Überquerung des Ozeans täuschte es eine Liebesgeschichte vor, umkreiste das Deck eines Schiffs und liebte in einem Rettungsboot. Es kriegte die Zöpfe abgeschnitten. Es fuhr mit dem Zug nach Detroit und zog in ein Haus in der Hurlbut Street; es befragte Traumbücher und machte eine unterirdische Schummerkneipe auf, es fand Arbeit im Tempel Nr. 1... Und dann zog das Gen wieder weiter, in neue Körper... Es ging zu den Pfadfindern und malte sich die Zehennägel rot, es spielte »Begin the Beguine« zum rückwärtigen Fenster hinaus, es zog in den Krieg und blieb zu Hause, wo es die Wochenschau sah, es machte eine Zulassungsprüfung, posierte wie in den Filmzeitschriften, wurde zum Tode verurteilt und traf eine Abmachung mit dem heiligen Christophorus, es ging mit einem zukünftigen Priester aus und löste eine Verlobung, es wurde mit einem Bootsmannsstuhl gerettet... immer vorwärts, immer in Hetze, nun nur noch ein paar Kurven auf der Bahn, Annapolis, ein U-Boot-Jäger... bis die Biologiegötter wussten, dass ihre Zeit gekommen war, darauf hatten sie gewartet, und als ein Löffel schwang und eine jiajia sich Sorgen machte, fügte sich mein Schicksal... Am 20. März 1954 wurde Pleitegeier geboren, und die Biologiegötter schüttelten den Kopf, nö, leider nicht... Aber es war ja noch Zeit, alles war bereit, die Achterbahn war im freien Fall, und nun gab es kein Halten mehr, mein Vater hatte Visionen von kleinen Mädchen, und meine Mutter betete zu einem Christus Pantokrator, an den sie nicht so recht glaubte, bis es endlich genau jetzt in diesem Augenblick! -, am griechischen Osterfest 1959, passieren wird. Das Gen steht im Begriff, auf seinen Zwilling zu treffen.
    Als Sperma auf Ei trifft, spüre ich einen Ruck. Es gibt einen lauten Ton, einen Überschallknall, als meine Welt zerbirst. Ich spüre, wie etwas anders wird, wie ich schon Teile meiner pränatalen Allwissenheit verliere, der leeren Tafel meines Personseins entgegenpurzle. (Mit dem letzten Fitzel Allwissenheit, das mir geblieben ist, sehe ich meinen Großvater Lefty Stephanides in der Nacht meiner Geburt neun Monate später ein Mokkatässchen verkehrt herum auf eine Untertasse stellen. Ich sehe, wie der Kaffeesatz ein Zeichen bildet, als in Leftys Schläfe ein Schmerz explodiert und er zu Boden stürzt.) Erneut rammt das Sperma meine Kapsel, und mir wird klar, dass ich es nicht länger hinauszögern kann. Die Pacht für meine tolle kleine Wohnung ist abgelaufen, ich werde zur Räumung gezwungen. Also hebe ich eine Faust (typisch Mann) und haue damit gegen die Wand meiner Eierschale, bis sie zerbricht. Dann tauche ich, glitschig wie ein Dotter, kopfüber in die Welt.
    »Tut mir Leid, mein kleines Baby«, sagte meine Mutter im Bett, indem sie sich, schon an mich gewandt, die Hand auf den Bauch legte. »Ich hätte es gern romantischer gehabt.«
    »Romantisch willst du's?«, sagte mein Vater. »Wo ist meine Klarinette?«

DRITTES BUCH

HEIMKINO
    Meine Augen sahen, endlich angeknipst, das Folgende: Eine Schwester nimmt mich dem Arzt ab; das triumphierende Gesicht meiner Mutter, groß wie Mount Rushmore, als sie mir nachschaut, wie ich zu meinem ersten Bad gebracht werde. (Ich habe gesagt, es sei unmöglich, dennoch erinnere ich mich daran.) Auch an andere Dinge, wichtige wie unwichtige: an den erbarmungslosen Schein der OP-Lampen, an weiße Schuhe, die über weiße Fußböden quietschen, an eine Stubenfliege, die Gaze verschmutzt, und an die individuellen Dramen, die sich um mich herum, überall auf den Gängen des Frauenkranken hauses, abspielen. Ich spürte das Glück von Paaren mit einem ersten Kind und die innere Kraft von Katholiken, die ihr neuntes hinnahmen. Ich empfand die Enttäuschung einer jungen Mutter, als sie das fliehende Kinn ihres Mannes an ihrer neugeborenen Tochter wieder entdeckte, und das Entsetzen eines frisch gebackenen Vaters, als er die Ausbildungskosten für Drillinge überschlug. Auf den Stockwerken über der Entbindungstation erholten sich Frauen in blumenlosen Zimmern von Totaloperationen und Brustamputationen. Halbwüchsige Mädchen mit geplatzten Eierstockzysten lagen im Morphiumdämmer. Alles war von Anfang an um mich herum, die Last des weiblichen Leidens mit seiner biblischen Rechtfertigung und den Tricks, es wegzuzaubern.
    Die Schwester, die mich wusch, hieß Rosalee. Sie war eine hübsche, schmalgesichtige Frau aus den Bergen von Tennessee.

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