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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Christophorus hatte während der »Polizeiaktion« in Korea Wort gehalten: Auf Milton war kein einziges Mal geschossen worden.) Natürlich hatte die Schwangerschaft ihrer Schwiegertochter für die übliche Aufregung gesorgt, doch Pleitegeier war gesund zur Welt gekommen. Das Restaurant lief gut. Jede Woche versammelten sich Familie und Freunde in Miltons neuem Haus in Indian Village zum Sonntagsmahl. Eines Tages erhielt Desdemona eine Broschüre von der Handelskammer New Smyrna Beach, die sie angefordert hatte. Es sah überhaupt nicht wie Smyrna aus, aber wenigstens schien die Sonne, und es gab Obststände.
    Unterdessen wähnte sich mein Großvater im Glück. Nachdem er über zwei Jahre mindestens eine Nummer am Tag gewettet hatte, waren alle Nummern von 1 bis 740 verbraucht. Nur noch 159 Nummern bis 999! Was dann? Was noch? - Von vorn anfangen. Bankkassierer schoben Lefty Münzrollen hin, die er wiederum dem Apotheker hinterm Fenster hinschob. Er spielte 741,742 und 743. Er spielte 744,745 und 746. Und dann teilte der Kassierer Lefty eines Morgens mit, dass sein Konto nicht mehr genügend Deckung habe, um etwas davon abzuheben. Der Kassierer zeigte ihm den Kontostand: $ 13,26. Mein Großvater dankte dem Kassierer. Er durchquerte die Schalterhalle, rückte die Krawatte zurecht. Ihm war schwindelig. Das Wettfieber, das er sechsundzwanzig Monate lang gehabt hatte, verschwand und sandte ihm eine letzte Hitzewelle über die Haut, und plötzlich war sein ganzer Körper klatschnass. Lefty tupfte sich die Stirn ab und verließ die Bank in sein mittelloses Alter.
    Der gellende Schrei, den meine Großmutter ausstieß, als sie von der Katastrophe erfuhr, lässt sich gedruckt nicht angemessen wiedergeben. Der Schrei wollte nicht enden, und dabei raufte sie sich die Haare und zerriss sich die Kleider und brach zusammen. »WIE SOLLEN WIR SATT WERDEN!«, jammerte Desdemona, durch die Küche taumelnd. »WO SOLLEN WIR LEBEN!« Sie breitete die Arme aus, flehte zu Gott, schlug sich dann auf die Brust, packte schließlich ihren linken Ärmel und riss ihn ab. »WAS BIST DU NUR FÜR-EIN MANN, DASS DU DAS DEINER FRAU ANTUST, DIE FÜR DICH GEKOCHT UND GEPUTZT UND DIR KINDER GESCHENKT UND NIE GEKLAGT HAT!« Nun riss sie sich den rechten Ärmel ab. »HABE ICH DIR NICHT GESAGT, DU SOLLST NICHT SPIELEN? HABE ICH ES NICHT GESAGT?« Jetzt nahm sie sich das ganze Kleid vor. Mit beiden Händen packte sie den Saum, während altertümliche nahöstliche Klagelaute aus ihrer Kehle drangen. »OULOULOULOULO ULOULOU! OULOULOULOULOULOULOU!« Mein Großvater sah erstaunt zu, wie seine bescheidene Frau vor seinen Augen ihre Kleidung zerfetzte, den Rock, die Taille, das Brustteil, das Dekollete. Mit einem letzten Ruck riss das Kleid entzwei, und Desdemona lag auf dem Linoleum, entblößte der Welt das Elend ihrer Unterwäsche, den überlasteten stäbchenverstärkten Büstenhalter, die düstere Unterhose und den verzweifelten Hüfthalter, dessen Korsett sie gerade jetzt, als sie sich dem Gipfelpunkt ihrer Auflösung näherte, zum Bersten brachte. Aber endlich hörte sie auf. Bevor sie vollkommen nackt war, fiel Desdemona wie erschöpft hintüber. Sie zog sich das Haarnetz ab, die Haare strömten, um ihren Körper zu bedecken, heraus, und verausgabt schloss sie die Augen. Gleich darauf sagte sie in einem nüchternen Ton: »Jetzt müssen wir bei Milton einziehen.«
    Drei Wochen später, im Oktober 1958, ein Jahr bevor meine Großeltern die Hypothek abbezahlt gehabt hätten, zogen sie aus der Hurlbut Street aus. An einem warmen Altweibersom merwochenende trugen mein Vater und mein entehrter Großvater Möbel zum Verkauf vors Haus, das seeschaumgrüne Sofa samt den Sesseln, die unter den Schonbezügen aus Plastik noch immer wie neu aussahen, den Küchentisch, die Bücherregale. Lampen wurden auf den Rasen gestellt, dazu Miltons alte Pfandfinderhandbücher, Zoe's Puppen und Steppschuhe, die gerahmte Fotografie des Patriarchen Athenagoras und eine Schrankladung Anzüge, zu deren Verkauf meine Großmutter Lefty zur Strafe zwang. Die Haare wieder sicher unter dem Haarnetz verstaut, schlich Desde mona mit finsterem Blick im Garten herum, versunken in einer Verzweiflung, die zu tief für Tränen war. Sie prüfte jeden Gegenstand, seufzte vernehmbar, bevor sie ein Preisschild dranmachte, und schimpfte mit ihrem Mann, weil er Dinge zu tragen versuchte, deren Gewicht ihn überforderten. »Glaubst du etwa, du bist noch jung? Soll Milton das doch tun. Du bist ein alter

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