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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Nachdem sie mir den Schleim aus den Nasenlöchern gesaugt hatte, gab sie mir eine Vitamin-K- Spritze, damit mein Blut gerann. Inzucht ist in den Appalachen nichts Ungewöhnliches, dasselbe gilt für genetische Missbildungen, aber Schwester Rosalee bemerkte nichts Auffälliges an mir. Sorgen bereitete ihr ein dunkelroter Klecks auf meiner Wange, sie hielt ihn für einen Portweinfleck. Er stellte sich als Plazenta heraus und konnte abgewaschen werden. Schwester Rosalee trug mich zurück zu Dr.
    Philobosian zur anatomischen Untersuchung. Sie legte mich auf einen Tisch, ließ aber zur Sicherheit eine Hand auf mir. Sie hatte bemerkt, wie sehr die Hand des Arztes bei der Entbindung gezittert hatte.
    1960 war Dr. Nishan Philobosian vierundsiebzig. Er hatte einen Kopf wie ein Kamel, der nach vorn geneigt auf dem Hals saß, alles Leben in den Wangen. Weißes Haar legte sich zu einem Heiligenschein um seinen ansonsten kahlen Kopf und verstopfte seine großen Ohren wie Watte. An seiner Chirurgenbrille waren rechteckige Lupen angebracht.
    Er begann an meinem Hals, suchte ihn nach kretinoiden Falten ab. Er zählte meine Finger und Zehen. Er inspizierte meinen Gaumen; er testete meinen Moro-Reflex, ohne überrascht zu werden. Er überprüfte mein Gesäß auf einen Sakralfortsatz. Dann drehte er mich wieder auf den Rücken, ergriff meine beiden krummen Beine und zog sie auseinander.
    Was sah er da? Die saubere Salzwassermuschel der weiblichen Genitalien. Die Gegend entzündet, von Hormonen angeschwollen. Das Pavianmäßige, das alle Babys haben. Dr. Philobosian hätte die Falten auseinander ziehen müssen, um besser zu sehen, doch er tat es nicht. Denn genau in diesem Augenblick berührte ihn Schwester Rosalee (für die dieser Moment ebenfalls Schicksal war) versehentlich am Arm. Dr. Phil blickte auf. Alterssichtige armenische Augen begegneten mittelalten appalachischen. Der Blick dauerte, riss dann ab. Fünf Minuten auf der Welt, und schon meldeten sich die Themen meines Lebens - Zufall und Sex.
    Schwester Rosalee errötete. »Schön«, sagte Dr. Philobosian, und er meinte mich, sah aber seine Helferin an. »Ein schönes, gesundes Mädchen.«
    In der Seminole Street war die Geburtsfeier von der Aussicht auf den Tod gedämpft.
    Desdemona hatte Lefty auf dem Küchenboden gefunden, wo er neben seiner umgekippten Kaffeetasse lag. Sie kniete sich hin und presste ein Ohr auf seine Brust. Als sie keinen Herzschlag hörte, rief sie seinen Namen. Ihr Klagelaut hallte von den harten Flächen der Küche wider: von Toaster, Herd, Kühlschrank. Dann brach sie über seiner Brust zusammen. In der Stille, die darauf folgte, spürte Desdemona jedoch ein eigenartiges Gefühl in sich aufsteigen. Es breitete sich in dem Raum zwischen ihrer Angst und ihrem Kummer aus. Als blähe ein Gas sie auf, so war es. Bald klappten ihre Augenlider hoch, und sie erkannte das Gefühl: Es war Glück. Tränen liefen ihr übers Gesicht, und sie schalt Gott, weil er ihr den Mann genommen hatte, doch auf der Kehrseite dieser angemessenen Gefühle war eine vollkommen unangemessene Erleichterung. Das Schlimmste war geschehen. Denn das war es: das Schlimmste. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte meine Großmutter nichts, worüber sie sich Sorgen machen musste.
    Meiner Erfahrung nach lassen sich Gefühle nicht mit einem Wort erfassen. Ich glaube nicht an »Trauer«, »Freude« oder »Bedauern«. Vielleicht der beste Beweis, dass die Sprache patriarchalisch ist, ist der, dass sie Gefühle grob vereinfacht. Ich hätte es gern, wenn mir Bezeichnungen komplizierter hybrider Gefühle zur Verfügung stünden, germanische Bandwurmkonstruktionen wie »das Glück, das die Katastrophe begleitet«. Oder: »Die Enttäuschung, wenn man mit dem Objekt seiner Phantasie schläft.« Ich würde gern zeigen, wie »von alternden Familienmitgliedern vorgebrachte Andeutungen der Sterblichkeit« sich mit dem »Hass auf Spiegel, der in mittleren Jahren beginnt« verbindet. Ich hätte gern ein Wort für »die Trauer, ausgelöst von miserabel besuchten Restaurants«, wie auch für »die Begeisterung, ein Hotelzimmer mit Minibar zu bekommen«. Nie hatte ich die richtigen Worte, um mein Leben zu beschreiben, und nun, da ich in meine Geschichte eingetreten bin, brauche ich sie mehr denn je. Ich kann mich nicht mehr einfach zurücklehnen und das Ganze aus der Ferne betrachten. Von nun an ist alles, was ich Ihnen erzähle, von der subjektiven Erfahrung gefärbt, Teil der Ereignisse zu sein. Hier spaltet

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