Middlesex
warum sie sich eine Hand vors Gesicht hält. In dieser Bewegung erkenne ich die emotionale Nähe, die ich zu Tessie immer empfunden habe; nie waren wir beide glücklicher, als wenn wir unbemerkt Leute beobachteten. Hinter ihrer Hand kann ich die Spuren des Romans sehen, den sie noch bis spät in die Nacht davor gelesen hat. Die vielen gewichtigen Wörter, die sie nachschlagen musste, drängen sich in ihrem müden Kopf, warten auf ihren Auftritt in den Briefen, die sie mir heute schreibt. Ihre Hand ist auch eine Verweigerung, die einzige Möglichkeit, sich an ihrem Mann zu rächen, der sich zunehmend von ihr entfernt. (Milton kam jeden Abend nach Hause; er trank nicht und hatte auch keine Frauengeschichten, aber da er mit seinen Gedanken immer beim Diner war, ließ er dort jeden Tag ein bisschen mehr von sich zurück, sodass der Mann, der zu uns heimkam, immer weniger anwesend schien, wie eine Art Roboter, der Truthähne anschnitt und Ferien filmte, aber eigentlich gar nicht da war.) Und schließlich ist die erhobene Hand meiner Mutter natürlich auch eine Warnung, ein Vorläufer des schwarzen Balkens.
Pleitegeier hat sich auf dem Teppich breit gemacht, schlingt Süßigkeiten hinunter. Der Enkel der beiden ehemaligen Seidenbauern (mit Tafel und Betperlen) hatte nie bei der Seidenraupenzucht helfen müssen. Nie war er auf dem Koza Han gewesen. Seine Umgebung hat sich ihm schon eingeprägt. Er hat den tyrannischen, egozentrischen Blick amerikanischer Kinder...
Und nun kommen zwei Hunde ins Bild getollt. Rufus und Willis, unsere beiden Boxer. Rufus schnüffelt an meiner Windel und setzt sich mit perfektem, komischem Timing auf mich drauf. Später wird er jemanden beißen, dann werden beide Hunde fortgegeben. Meine Mutter erscheint, scheucht Rufus weg... dann bin ich wieder da. Ich stehe auf und tapse auf die Kamera zu, lächle, probiere zu winken...
Ich kenne diesen Streifen gut. »Ostern '62« war der Film, den Dr. Luce meinen Eltern abschwatzte. Es war der Film, den er jedes Jahr seinen Studenten an der medizinischen Fakultät der Cornell-Universität vorspielte. Es war das fünfunddreißig Sekunden lange Segment, das, betonte Luce, seine Theorie bewies, dass sich die Geschlechtsidentität schon früh im Leben herausbildet. Es war der Film, den Luce mir zeigte, um mir zu sagen, wer ich war. Und wer war das? Schauen Sie auf die Leinwand. Meine Mutter reicht mir eine Babypuppe. Ich nehme das Baby und drücke es an mich. Setze dem Baby ein Spielzeugfläschchen an den Mund, gebe ihm Milch.
Meine frühe Kindheit ging dahin, gefilmt oder nicht. Ich wurde als Mädchen aufgezogen und stellte das nicht in Frage. Meine Mutter badete mich und brachte mir bei, wie ich mich zu säubern hatte. Nach allem, was später geschah, würde ich sagen, dass diese Unterweisungen in weiblicher Hygiene bestenfalls rudimentär waren. Ich erinnere mich an keine direkten Anspielungen auf meine Geschlechtsorgane. Alles war in eine Zone des Privaten und Zerbrechlichen gehüllt, und da schrubbte meine Mutter mich nie allzu hart. (Pleitegeiers Organ hieß »Pitzi«. Aber für das, was ich hatte, gab es kein Wort.) Mein Vater war sogar noch zimperlicher. Die seltenen Male, wenn er mich windelte oder badete, wandte Milton beflissen den Blick ab. »Hast du sie auch überall gewaschen?«, fragte ihn meine Mutter, wie immer verblümt. »Nicht überall. Das ist dein Bereich.«
Es hätte ohnehin nichts geändert. Das 5-alpha-Reduktase- Mangel-Syndrom ist ein geschickter Fälscher. Bis zur Pubertät, als Androgene meinen Blutstrom überschwemmten, war die Art, in der ich mich von anderen kleinen Mädchen unterschied, kaum wahrzunehmen. Meinem Kinderarzt fiel nie etwas Ungewöhnliches auf. Und als ich dann fünf war, ging Tessie schon mit mir zu Dr. Phil - Dr. Phil mit seinen nachlassenden Augen und flüchtigen Untersuchungen.
Am 8. Januar 1967 wurde ich sieben. 1967 war das Jahr, in dem in Detroit vieles zu Ende ging, darunter auch die Filme meines Vaters. »Callies 7. G-tag« war Miltons letzter Super-8- Streifen.
Der Schauplatz war unser mit Luftballons geschmücktes Esszimmer. Auf meinem Kopf sitzt der übliche spitz zulaufende Hut. Pleitegeier, zwölf Jahre alt, gesellt sich nicht zu den Jungen und Mädchen an dem Tisch, sondern steht an der Wand und trinkt Punsch. Unser Altersunterschied bedeutete, dass mein Bruder und ich nicht miteinander groß wurden. Als ich ein Säugling war, war Pleitegeier ein kleiner Junge, als ich ein kleines Mädchen
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