Middlesex
seiner Sprachlähmung blieb mein Großvater ein lebensfroher Mensch. Er stand frühmorgens auf, badete, rasierte sich, band sich eine Krawatte um und übersetzte noch vor dem Frühstück zwei Stunden lang Altgriechisch. Er hatte nicht mehr den Anspruch, seine Übersetzungen zu veröffentlichen; er machte die Arbeit, weil sie ihm gefiel und weil sie ihn geistig forderte. Um mit den andern der Familie zu kommunizieren, hatte er ständig eine kleine Tafel bei sich. Er schrieb seine Mitteilungen in Wörtern und Hieroglyphen. In dem Bewusstsein, dass er und Desdemona meinen Eltern zur Last fielen, war Lefty im Haus sehr hilfsbereit, reparierte Dinge, half beim Putzen, erledigte Einkäufe. Jeden Nachmittag ging er seine fünf Kilometer, egal, wie das Wetter war, und kam, das Lächeln voller Goldfüllungen, bester Laune wieder. Abends hörte er in der Mansarde seine Rembetikaplatten und rauchte Wasserpfeife. Wenn Pleitegeier ihn fragte, was in der Pfeife sei, schrieb Lefty auf seine Tafel: »Türkischer Dreck.« Meine Eltern glaubten immer, es sei eine aromatische Tabaksorte. Weiß der Himmel, wo Lefty das Hasch herbekam. Wahrscheinlich von irgendwem auf seinen Spaziergängen. Er hatte noch immer viele griechische und libanesische Bekannte in der Stadt.
Täglich von zehn bis zwölf war ich bei meinen Großeltern. Desdemona gab mir das Fläschchen und wechselte die Windeln. Sie kämmte mir mit den Fingern das Haar. Wurde ich quengelig, trug mein Großvater mich im Zimmer herum. Da er nicht mit mir sprechen konnte, warf er mich häufig hoch und summte mir etwas vor, ging mit seiner großen geschwungenen Nase dicht an meine kleine, latent geschwungene heran. Mein Großvater war wie ein würdiger, ungeschminkter Pantomime, und ich war fast fünf, als ich endlich merkte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. War er das Grimassenschneiden leid, trug er mich zum Mansardenfenster, von wo wir gemeinsam, von den beiden Polen des Lebens aus, auf unser laubgrünes Viertel hinabblickten.
Bald schon lief ich. Animiert von bunt verpackten Geschenken, taperte ich in den Bildausschnitt des väterlichen Heimkinos. An jenen ersten Zelluloidweihnachten war ich herausgeputzt wie die Infantin. Ausgehungert nach einer Tochter, trieb Tessie es mit meiner Ausstaffierung ein wenig zu weit. Rosa Röckchen, Spitzenrüschchen, Weihnachtsschleifchen im Haar. Ich mochte die Sachen nicht, auch nicht den stacheligen Weihnachtsbaum, und meistens sieht man mich dramatisch in Tränen ausbrechen...
Vielleicht lag es auch an der Filmkunst meines Vaters. Miltons Kamera war mit einem Gestell voller gnadenloser Scheinwerfer ausgerüstet. Die gleißende Helligkeit verleiht den Filmen etwas von Gestapo-Verhören. Wenn wir unsere Geschenke hochhalten, wirken wir alle leicht erschrocken, als hätte man uns mit Diebesgut erwischt. Außer ihrer gleißenden Helligkeit besaßen die Filme meines Vaters noch eine weitere Eigenheit: Wie Hitchcock erschien er immer auch selbst darin. Um nachzusehen, wie viel Film noch in der Kamera übrig war, musste man den Zähler in der Linse ablesen. Mitten in Geburtstagsfeier- oder Weihnachtsszenen kam dann stets der Moment, da das Auge meines Vaters die Leinwand füllte.
Sodass mir nun, da ich auf die Schnelle versuche, meine frühen Jahre zu skizzieren, am deutlichsten nur dies einfällt: die braune Murmel des verschlafenen Bärenauges meines Vaters. Ein Hauch von Postmoderne in unserem Heimkino, der das Künstliche unterstreicht, die Aufmerksamk eit auf die Technik lenkt. (Und mir meine Ästhetik vermacht hat.) Miltons Auge betrachtete uns. Es blinzelte. Ein Auge, so groß wie der Christus Pantokrator in der Kirche, besser als jedes Mosaik. Es war ein lebendes Auge, die Hornhaut ein wenig blutunterlaufen, die Wimpern üppig, die Haut darunter kaffeegefleckt, beutelig. Bis zu zehn Sekunden starrte dieses Auge uns an. Schließlich machte die noch laufende Kamera einen Schwenk, dann sahen wir die Decke, die Leuchten, den Fußboden, und dann wieder uns: die Stephanides'. Zuallererst Lefty. Trotz seines Schlaganfalls noch immer schmuck, schreibt er in gestärktem weißem Hemd und Glencheck-Hose etwas auf seine Tafel und hält sie hoch: »Christos Anesti.« Ihm gegenüber sitzt Desdemona, ihr Gebiss lässt sie wie eine schnappende Schildkröte aussehen. Auf diesem Film mit der Aufschrift »Ostern '62« ist meine Mutter zwei Jahre vor ihrem Vierzigsten.
Die Krähenfüße an ihren Augen sind (neben den Scheinwerfern) ein weiterer Grund,
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