Middlesex
Veränderungen wahrnehmen konnten, waren wir vor der Villa am Middlesex Boulevard.
Als Erstes fielen mir die Bäume auf. Zwei gewaltige Trauerweiden wie wollige Mammuts zu beiden Seiten des Anwesens. Die Zweige hingen wie die Schwammfahnen einer Autowaschanlage über die Zufahrt. Darüber stand die Herbstsonne. Auf ihrem Weg durch das Weidenlaub verwandelte sie es in ein phosphoreszierendes Grün. Es war, als wäre mitten in dem kühlen Schatten des Blocks ein Leuchtfeuer angeknipst, und dieser Eindruck wurde von dem Haus, vor dem wir nun angehalten hatten, noch verstärkt.
Die Middlesex! Hat jemand schon einmal in einem so eigenartigen Haus gewohnt? In einem so sciencefiction mäßigen? Einem so futuristischen und altmodischen zugleich? Einem Haus, das ein wenig wie der Kommunismus war, in der Theorie besser als in der Realität? Die Wände waren hellgelb, aus achteckigen Steinblöcken, die am Dach entlang mit einer Redwood-Wandung verblendet waren. Die ganze Frontseite war eine einzige Fensterfläche. Hudson Clark (dessen Namen Milton noch jahrelang fallen ließ, obwohl niemand etwas damit anfangen konnte) hatte die Middlesex so gestaltet, dass sie mit ihrer natürlichen Umgebung harmonierte. In diesem Fall waren dies die beiden Trauerweiden und der Maulbeerbaum vor dem Haus. Nicht daran denkend, wo er sich befand (in einer konservativen Vorstadt) und was auf der anderen Seite dieser Bäume war (die Turnbulls und die Picketts, unsere Nachbarn), hatte sich Clark an den Prinzipien Frank Lloyd Wrights orientiert, indem er die viktorianische Vertikale zugunsten einer mittelwestlichen Horizontale verwarf, die Innenräume öffnete und einen japanischen Einfluss einbrachte. Zum Beispiel: Hudson Clark hatte nichts von Türen gehalten. Das Konzept der Tür, dieses Dings, das nach der einen oder anderen Seite aufschwang, war unmodern. Daher hatten wir in der Middlesex auch keine Türen. Stattdessen hatten wir lange akkordeon artige Raumteiler aus Sisal, die von einer pneumatischen Pumpe angetrieben wurden, die im Keller stand. Auch das Konzept der Treppe im traditionellen Sinn brauchte die Welt nicht mehr. Treppen repräsentierten eine ideologische Sicht des Universums, dass nämlich eins zum andern führte, wohingegen heute jeder wusste, dass eins gar nicht zum andern führte, sondern häufig nirgendwohin. So auch unsere Treppe. O ja, irgendwann führte sie schon nach oben. Sie brachte den beharrlich Steigenden durchaus in den ersten Stock, aber unterwegs auch an alle möglichen anderen Orte. Da gab es etwa einen Absatz, über dem ein Mobile hing. In die Treppenhauswände waren Gucklöcher und Regale hineingeschnitten. Beim Hinaufgehen konnte man die Beine dessen sehen, der gerade im oberen Flur vorbeiging. War jemand unten im Wohnzimmer, konnte man ihn beobachten.
»Wo sind denn die Wandschränke?«, fragte Tessie, kaum dass wir im Haus waren.
»Wandschränke?«
»Die Küche ist meilenweit vom Wohnzimmer entfernt, Milt. Jedes Mal, wenn du einen Happen essen willst, musst du das ganze Haus durchwandern.«
»Das hält uns fit.«
»Und wie soll ich für diese Fenster Vorhänge finden? So große Vorhänge gibt's doch gar nicht. Da kann ja jeder reinsehen!«
»Sieh's doch mal so. Wir können immer raussehen.«
Aber da erscholl vom anderen Ende des Hauses ein Schrei:
»Mama!«
Entgegen ihrem mulmigen Gefühl hatte Desdemona auf einen Knopf an der Wand gedrückt. »Was das ist für ein Tür?«, schrie sie, als wir angerannt kamen. »Sich bewegt von selber!«
»He, ganz ruhig«, sagte Pleitegeier. »Versuch's mal, Cal. Steck den Kopf in die Tür. Ja, genau so...«
»Macht mit der Tür keinen Unsinn, Kinder.«
»Ich will bloß den Druck testen.«
»Aua!«
»Was hab ich dir gesagt? Spatzenhirn. Jetz hol deine Schwester aber aus der Tür.«
»Ich will ja. Aber der Knopf tut's nicht.«
»Wie meinst du das, er tut's nicht?«
»Na, das ist ja großartig, Milt. Keine Wandschränke, und nun müssen wir auch noch die Feuerwehr holen, um Callie aus der Tür zu kriegen.«
»Die ist eben nicht dazu gemacht, dass jemand den Hals dazwischen hat.«
»Mama!«
»Kriegst du Luft, Schatz?«
»Ja, aber es tut weh.«
»Das ist wie bei dem Typen in den Carlsbad Caverns«, sagte Pleitegeier. »Der steckte fest, und sie mussten ihn vierzig Tage lang füttern, und dann ist er schließlich gestorben.«
»Zappel nicht so, Callie, Davon wird es nur noch...«
»Ich zapple nicht...«
»Ich seh Callies Unterhose! Ich seh Callies
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