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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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lange weißblonde Haare mit einem Pony, und da ich sie nie tagsüber sah, beschloss ich, dass sie ein Albino war.
    Aber ich irrte mich: Eines Nachmittags war sie draußen in der Sonne und holte einen Ball von unserem Grundstück, der ihr hinübergeflogen war. Sie hieß Clementine Stark. Sie war kein Albino, nur sehr blass und allergisch gegen kaum zu vermeidende Dinge (Gras, Hausstaub). Ihr Vater stand kurz vor einem Herzanfall, und meine heutigen Erinnerungen an sie sind mit dem Blau des Unglücks gefärbt, das sie damals noch nicht befallen hatte. Sie stand mit bloßen Beinen in dem wuchernden Unkraut, das zwischen unseren Häusern spross. Ihre Haut reagierte bereits auf die Grasschnipsel an dem Ball, dessen Feuchtigkeit sich durch den übergewichtigen Labrador erklärte, der plötzlich in den Blick hinkte.
    Clementine Stark hatte ein Himmelbett, das wie eine kaiserliche Barkasse an einer Seite ihres meerblauen Schlafzimmerteppichs vertäut war. Sie hatte eine Sammlung aufgespießter Insekten, die giftig wirkten. Sie war ein Jahr älter als ich und daher weltklug, und einmal war sie in Krakau gewesen, das in Polen liegt. Wegen ihrer Allergien musste Clementine sich viel im Haus aufhalten. Das führte dazu, dass wir die meiste Zeit drinnen waren und Clementine mir das Küssen beibrachte.
    Als ich Dr. Luce meine Lebensgeschichte erzählte, war die Stelle, die unvermeidlich sein Interesse weckte, die mit Clementine Stark. Kriminell verknallte Großeltern, Seidenraupenkisten oder Klarinettenständchen waren ihm egal. In gewisser Weise verstehe ich das. Stimme sogar überein mit ihm.
    Clementine lud mich zu sich ein. Ohne ihr Haus auch nur mit unserem vergleichen zu wollen, war es ein ungeheuer mittelalterlich wirkender Bau, eine Festung aus grauem Stein, lieblos bis auf eine Extravaganz - ein Zugeständnis an die Prinzessin: einem einzelnen spitzen Turm, an dem ein lavendelfarbenes Fähnchen flatterte. Drinnen gab es Wandteppiche, eine Rüstung mi t einer französischen Inschrift überm Visier und, in einem schwarzen Trikot, Clementines schlanke Mutter. Sie machte Beinaufschwünge.
    »Das ist Callie«, sagte Clementine. »Sie kommt zu mir zum Spielen.«
    Ich strahlte. Ich versuchte eine Art Knicks. (Schließlich war das meine Einführung in die feine Gesellschaft.) Aber Clementines Mutter sah gar nicht zu mir her.
    »Wir sind gerade erst eingezogen«, sagte ich. »Wir wohnen in dem Haus hinter Ihrem.«
    Nun runzelte sie die Stirn. Ich glaubte, ich hatte etwas Falsches gesagt - mein erster Etikettenlapsus in Grosse Pointe. Mrs. Stark sagte: »Dann geht doch einfach nach oben, ihr beiden.«
    Gesagt, getan. In ihrem Zimmer setzte sich Clementine auf ein Schaukelpferd. Die nächsten drei Minuten ritt sie darauf, ohne noch ein Wort zu sagen. Dann stieg sie unvermittelt ab.
    »Ich hatte mal eine Schildkröte, aber die ist abgehauen.«
    »Ach, ja?«
    »Meine Mom sagt, sie kann überleben, wenn sie's nach draußen geschafft hat.«
    »Wahrscheinlich ist sie tot«, sagte ich.
    Clementine nahm das tapfer hin. Sie kam zu mir und hielt ihren Arm an meinen. »Guck mal, ich hab Sommersprossen wie der Große Bär«, verkündete sie. Wir standen nebeneinander vor dem großen Spiegel und schnitten Grimassen. Clementines Augen waren an den Rändern entzündet. Sie gähnte. Sie rieb sich mit dem Handballen die Nase. Und dann fragte sie: »Willst du Küssen üben?«
    Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Eigentlich wusste ich doch schon, wie man küsste. War da noch etwas, was ich lernen musste? Doch noch während mir diese Frage im Kopf herumging, begann Clementine schon mit ihrem Unterricht. Sie stellte sich vor mich hin. Mit ernster Miene legte sie mir die Arme um den Hals.
    Ich verfüge zwar nicht über die notwendigen Spezialeffekte, aber ich möchte doch gern, dass Sie sich vorstellen, wie Clementines weißes Gesicht nahe an meines heranging, wie ihre schläfrigen Augen zuklappten, ihre medizinsüßen Lippen sich spitzten und alle anderen Geräusche der Welt verstummten - das Rascheln unserer Kleider, das Zählen der Beinaufschwünge im Erdgeschoss, das Flugzeug draußen, das ein Ausrufezeichen an den Himmel malte -, ganz verstummten, als Clementines hoch gebildete achtjährige Lippen auf meine trafen.
    Und wie dann, irgendwo weiter unten, mein Herz etwas tat. Eigentlich kein Pochen. Nicht einmal ein Höherschlagen. Eher eine Art Wusch, wie wenn ein Frosch sich vom schlammigen Ufer abstößt. Mein Herz, diese Amphibie, bewegte

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