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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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und er sackte zur Seite. Der Wagen fuhr weiter, ungelenkt, näherte sich dem Bordstein. Ich lachte, kreischte, raufte mir die Haare und strampelte mit den Beinen. In der letztmöglichen Sekunde schreckte Lefty hoch, packte das Steuer und wendete die Katastrophe ab.
    Wir brauchten gar nicht zu sprechen. Wir verstanden einander auch ohne Worte. Aber dann geschah etwas Schreckliches.
    Es ist ein Samstagvormittag einige Wochen nach unserem Einzug in die Middlesex. Lefty macht mit mir einen Spaziergang durch das neue Viertel. Wir haben vor, zum See zu gehen. Hand in Hand schlendern wir durch unseren neuen Vorgarten. In seiner Hosentasche, knapp unterhalb meiner Schultern, klimpert Kleingeld. Ich streiche mit den Fingern über seinen Daumen, fasziniert von dem fehlenden Nagel, den ihm, wie Lefty mir immer sagte, in einem Zoo ein Affe abgebissen hat.
    Jetzt gelangen wir auf den Gehweg. Der Mann, der in Grosse Pointe die Gehwege macht, hat seinen Namen im Zement hinterlassen: J. P. Steiger. Auch ein Riss ist dort, Ameisen führen darin Krieg. Nun überqueren wir das Gras zwischen Gehweg und Straße. Und nun stehen wir am Bordstein.
    Ich mache einen Schritt hinunter. Lefty nicht. Stattdessen rutscht er, einfach so, die fünfzehn Zentimeter auf die Straße. Noch immer an seiner Hand, lache ich ihn aus, weil er so ungeschickt ist. Auch Lefty lacht. Aber er sieht mich nicht an. Er starrt einfach weiter geradeaus ins Nichts. Und als ich aufblicke, sehe ich auf einmal Dinge an meinem Großvater, für die ich eigentlich zu jung bin. Ich sehe Furcht in seinen Augen und Verstörung und, was das Erstaunlichste ist, dass eine Erwachsenensorge unseren gemeinsamen Spaziergang beherrscht. Die Sonne ist in seinen Augen. Seine Pupillen ziehen sich zusammen. Wir bleiben im Rinnstein, im Staub, im Laub stehen. Fünf Sekunden. Zehn. Lange genug, dass Lefty dem Beweis seiner reduzierten Fähigkeiten ins Auge blicken und ich den Ansturm meiner wachsenden eigenen spüren kann.
    Was niemand wusste: Lefty hatte in der Woche davor einen weiteren Schlaganfall gehabt. Nachdem er schon nicht mehr sprechen konnte, litt er nun auch noch an einer räumlichen Desorientiertheit. Möbel rückten vor und wichen zurück, mechanisch wie in einem Geisterhaus. Schelmisch boten sich Stühle an und zogen sich im letzten Moment unter ihm weg. Die Kegel auf dem Backgammonbrett wogten wie die Tasten eines automatischen Klaviers. Lefty hatte es keinem gesagt.
    Weil er sich nicht mehr ans Steuer traute, ging Lefty mit mir spazieren. (So waren wir auch an den Bordstein gelangt, den Bordstein, vor dem er nicht rechtzeitig aufwachen und umdrehen konnte.) Wir gingen den Middlesex Boulevard entlang, der stumme, alte, ausländische Gentleman und seine dünne Enkelin, ein Mädchen, das für zwei redete, ja das so pausenlos daherplapperte, dass ihr Vater, der ehemalige Klarinettist, oft im Scherz sagte, sie könne ja wohl Zirkularatmung. Ich gewöhnte mich allmählich an Grosse Pointe, an die vornehmen Mütter mit ihren Chiffonkopftüchern und an das dunkle, von Zypressen umstandene Haus, in dem die einzige jüdische Familie wohnte (die ebenfalls bar bezahlt hatte). Wohingegen mein Großvater sich an eine weit erschreckendere Wirklichkeit gewöhnen musste. Indem Lefty meine Hand festhielt, um das Gleichgewicht zu halten, da doch Bäume und Büsche in seinen Augenwinkeln sonderbare Gleitbewegungen machten, sah er sich mit der Möglichkeit konfrontiert, dass das Bewusstsein ein biologischer Zufall war.
    Auch wenn er nie religiös gewesen war, erkannte er nun, dass er immer an die Seele geglaubt hatte, an eine Stärke der Persönlichkeit, die den Tod überdauerte. Aber je länger sein Geist schwankte, Kurzschlüsse hatte, gelangte er irgendwann zu dem kaltsichtigen, seiner jugendlichen Heiterkeit so sehr entgegenstehenden Ergebnis, dass das Gehirn ein Organ wie jedes andere war und dass es ihn, wenn es versagte, nicht mehr geben würde.
    Ein siebenjähriges Mädchen kann nicht immer mit ihrem Großvater spazieren gehen. Ich war die Neue im Viertel und wollte Freundinnen haben. Von unserer Dachterrasse aus erspähte ich manchmal ein Mädchen ungefähr in meinem Alter, das in dem Haus hinter unserem wohnte. Abends kam sie zuweilen auf einen kleinen Balkon und zupfte Blütenblätter von den Blumen im Fensterkasten. In verspielteren Momenten drehte sie träge Pirouetten, als wollte sie zur Melodie meiner Spieldose tanzen, die ich zur Gesellschaft immer mit aufs Dach nahm. Sie hatte

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