Middlesex
wie vorher da, den Kopf auf der Seite. Er ist so blass wie Clementine. Eine irrwitzige Sekunde lang denke ich, er spielt unser Fahrspiel, gibt vor zu schlafen, aber dann begreife ich, dass er nie wieder etwas spielen wird...
Und alle Sprechanlagen heulen im Haus. Ich schreie nach Tessie in der Küche, die nach Milton im Arbeitszimmer schreit, der nach Desdemona im Gästehaus schreit. »Komm schnell! Mit papou stimmt was nicht!« Und dann noch mehr Kreischen und die blitzenden Lichter eines Krankenwagens, und meine Mutter sagt zu Clementine, es sei jetzt Zeit, nach Hause zu gehen.
Später am Abend: Das Spotlight richtet sich auf zwei Zimmer in unserem neuen Haus am Middlesex Boulevard. In dem einen Lichtkegel bekreuzigt sich eine alte Frau und betet, im anderen betet ein siebenjähriges Mädchen, bittet um Vergebung, weil es mir klar war, dass ich Verantwortung trug. Dafür, was ich getan habe... was Lefty gesehen hat... Und ich verspreche, etwas Derartiges nie wieder zu tun, und flehe Bitte lass papou nicht sterben und schwöre Es war Clementines Schuld. Die hat angefangen.
(Und nun schlägt die Stunde für Mr. Starks Herz. Seine Arterien sind mit etwas beschichtet, was wie Gänseleberpastete aussieht, eines Tages verstopft es sie ganz. Clementines Vater kippt in der Dusche vornüber. Mrs. Stark im Erdgeschoss spürt etwas, hört mit ihren Beinaufschwüngen auf, und drei Wochen später verkauft sie das Haus und zieht mit ihrer Tochter weg. Ich habe Clementine nie mehr gesehen...)
Lefty erholte sich wieder und wurde aus dem Krankenhaus entlassen. Aber das war nur ein Innehalten in der langsamen, aber unausweichlichen Auflösung seines Verstands. Im Verlauf der nächsten drei Jahre wurde die Festplatte seines Gedächtnisses nach und nach gelöscht, erst die neueste Information, und von dort ging es immer weiter zurück. Anfangs vergaß Lefty Kurzzeit-Dinge, zum Beispiel wo er seinen Füller oder seine Brille hingelegt hatte, dann vergaß er, welcher Tag es war, welcher Monat und schließlich, welches Jahr. Brocken seines Lebens brachen weg, sodass er, während wir in der Zeit voranschritten, rückwärts lief. 1969 wurde uns klar, dass er noch 1968 lebte, weil er ständig über die Anschläge auf Martin Luther King und Robert Kennedy den Kopf schüttelte. Als wir dann in das Tal der Siebziger hinüberwechselten, war Lefty in den Fünfzigern. Erneut begeisterte er sich über die Fertigstellung des St.-Lorenz-Seewegs, und mich nahm er gar nicht mehr wahr, weil ich da noch nicht geboren war. Er erlebte wieder seine Spielsucht und fühlte sich nutzlos nach der Pensionierung, aber auch das verging bald, weil er in den vierziger Jahren war und wieder die Grillbar hatte. Jeden Morgen stand er auf, als wollte er zur Arbeit gehen. Desdemona musste sich ausgeklügelte Listen ausdenken, um ihn zufrieden zu stellen, erzählte ihm, die Küche sei der Zebra Room, nur eben umgestaltet, und klagte über das schlechte Geschäft. Manchmal lud sie Damen von der Kirche ein, die mitspielten, Kaffee bestellten und Geld auf die Küchenplatte legten.
Im Kopf wurde Lefty Stephanides immer jünger, während er in Wirklichkeit zusehends alterte, sodass er häufig Gegenstände heben wollte, die zu schwer für ihn waren, oder sich an Treppen versuchte, die seine Beine überforderten. Das hatte Stürze zur Folge. Zerbrochene Dinge. Wenn Desdemona sich in solchen Momenten zu ihm niederbückte, um ihm aufzuhelfen, sah sie in den Augen ihres Mannes eine vorübergehende Klarheit, so als spiele auch er mit, indem er vorgab, sein Leben in der Vergangenheit zu leben, um sich nicht der Gegenwart stellen zu müssen. Dann fing er an zu weinen, und Desdemona legte sich zu ihm und hielt ihn in den Armen, bis der Anfall vorüber war.
Aber bald war er in den Dreißigern und kurbelte am Radio, lauschte Roosevelt-Reden. Unseren schwarzen Milchmann verwechselte er mit Jimmy Zizmo, und manchmal stieg er in dessen Lieferwagen in der Meinung, sie würden jetzt auf Schmuggelfahrt gehen. Mit Hilfe seiner Tafel verwickelte er den Milchmann in Gespräche über verschobenen Whiskey, und selbst wenn diese einen Sinn ergeben hätten, so hätte der Milchmann doch nichts verstanden, denn um diese Zeit wurde Leftys Englisch immer schlechter. Ihm unterliefen Rechtschreib und Grammatikfehler wie lange nicht mehr, und bald schrieb er nur gebrochenes Englisch und schließlich überhaupt keines mehr. Er machte schriftliche Andeutungen auf Bursa, und da begann Desdemona, sich zu
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