Middlesex
Dr. Katz. Einen mit dem unglückseligen Namen Dr. Gold. Allesamt stellten sie Desdemona dieselbe furchtbare Diagnose, dass ihr nichts fehle. Sie schauten in die runzligen Backpflaumen ihrer Augen, sie spähten in die getrockneten Aprikosen ihrer Ohren, sie lauschten der unzerstörbaren Pumpe ihres Herzens und erklärten sie für gesund.
Wir versuchten, sie aus dem Bett zu locken. Wir luden sie ein, Never on Sunday auf dem großen Fernseher zu sehen. Wir riefen Tante Lina in New Mexico an und schalteten das Telefon auf die Sprechanlage. »He, Des, besuch mich doch mal. Hier ist es so heiß, du glaubst, du bist wieder im horeo.«
»Ich dich kann nicht hören, Lina!«, schrie Desdemona trotz ihrer Lungenprobleme. »Der Apparat da, der tut nicht richtig!«
Schließlich appellierte Tessie an Desdemonas Gottesfurcht und sagte ihr, es sei eine Sünde, nicht zur Kirche zu gehen, wenn man körperlich dazu in der Lage sei. Doch Desdemona tätschelte die Matratze. »Das nächste Mal, wo ich geh zu Kirche, ist in Sarg.«
Sie begann, letzte Vorkehrungen zu treffen. Vom Bett aus wies sie meine Mutter an, die Schränke auszuräumen. »Papous Sachen, die kannst du Wohlfahrt geben. Auch meine schöne Kleider. Ich brauch jetzt bloß noch was für mich begraben.« Die Notwendigkeit, für ihren Mann in seinen letzten Lebensjahren zu sorgen, hatte Desdemona zu hektischer Betriebsamkeit veranlasst. Erst wenige Monate zuvor hatte sie die weichen Speisen, die er zu sich nahm, geschält und gekocht, ihm die Windeln gewechselt, sein Bettzeug und die Schlafanzüge gereinigt und seinen Körper mit feuchten Handtüchern und Q- Tips bearbeitet. Nun aber, mit siebzig, wurde sie von der Anstrengung, außer sich selbst niemanden mehr zum Pflegen zu haben, über Nacht alt. Ihre grau gesprenkelten Haare ergrauten ganz, und ihre robuste Gestalt bekam ein feines Leck, sodass sie von Tag zu Tag zu schrumpfen schien. Sie wurde blasser. Adern traten hervor. Kleine rote Sommersprossen übersäten plötzlich ihre Brust. Sie prüfte ihr Gesicht nicht mehr im Spiegel. Wegen ihres schlechten Zahnersatzes hatte Desdemona jahrelang praktisch keine Lippen gehabt. Nun aber trug sie nicht einmal mehr dort Lippenstift, wo ihre Lippen einmal gewesen waren.
»Miltie«, sagte sie eines Tages zu meinem Vater, »hast du für mich gekauft das Stück neben papou?«
»Mach dir keine Sorgen, Ma. Es ist ein Doppelgrab.«
»Und niemand das nimmt weg?«
»Da steht dein Name dran, Ma.«
»Da steht nicht mein Name dran, Miltie! Deshalb ich mir mache Sorgen. Auf eine Seite ist bloß papous Name dran. Andere Seite ist bloß Gras. Du sollst Schild aufstellen, wo steht drauf, das ist für jiajia. Eine andere Frau, wenn sie stirbt, kann versuchen, neben meine Mann zu kommen.«
Doch damit waren ihre Begräbnisvorkehrungen noch nicht beendet. Desdemona wählte nicht nur ihre Grabstelle aus. Sie wählte auch ihren Leichenbestatter aus. Georgie Pappas, der Bruder von Sophie Sassoon, der bei T. J. Thomas Funeral Home arbeitete, kam im April in die Middlesex (als Desdemona eine verheißungsvolle Lungenentzündung hatte). Er trug seine Musterkoffer von Särgen, Urnen und Blumengebinden ins Gästehaus und saß an ihrem Bett, während sie die Fotografien so aufgeregt betrachtete, als studiere sie Reiseprospekte. Sie fragte Milton, was er sich leisten könne.
»Ich möchte nicht darüber sprechen, Ma. Du stirbst nicht.«
»Ich nicht verlange das Imperial. Georgie sagt, Imperial ist Spitzenmodell. Aber für jiajia ist Presidential okay.«
»Wenn es so weit ist, kannst du alles haben, was du möchtest. Aber...«
»Und innen Satin. Bitte. Und eine Kissen. Wie hier. Seite acht. Nummer fünf. Hör genau zu! Und sag Georgie, er soll weglassen meine Brille.«
Für Desdemona war der Tod nur eine andere Form der Emigration. Statt von der Türkei nach Amerika zu fahren, würde sie nun von der Erde in den Himmel reisen, wo Lefty schon eingebürgert war und mit einem Zuhause auf sie wartete.
Nach und nach gewöhnten wir uns an Desdemonas Rückzug aus der Familiensphäre. Inzwischen, es war im Frühling 1971, tüftelte Milton an einer neuen »Geschäftsidee«. Nach der Katastrophe in der Pingree Street hatte Milton sich geschworen, den gleichen Fehler nicht noch einmal zu machen. Wie entkommt man der Immobilienregel Lage, Lage, Lage? Ganz einfach: Sei überall zugleich.
»Hotdog-Buden«, verkündete Milton eines Abends beim Essen. »Man fängt mit drei, vier an und fügt im Lauf der Zeit
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