Middlesex
sorgen. Sie wusste, dass die fortschreitende geistige Rückentwicklung ihres Mannes nur zu einem hinführen konnte, zurück zu den Tagen, wo er nicht ihr Mann, sondern ihr Bruder gewesen war, und nachts lag sie im Bett wach und wartete beklommen darauf, dass das passierte. In gewisser Weise lebte auch sie nun rückwärts, denn das Herzklopfen ihrer Jugend hatte sich wieder eingestellt. O Gott, betete sie, lass mich jetzt sterben. Bevor Lefty zum Schiff zurückkehrt. Und dann eines Morgens, als sie aufstand, saß Lefty schon am Frühstückstisch. Er hatte sich die Haare mit Vaseline, die er im Medizinschränkchen gefunden hatte, á la Valentine pomadisiert. Um seine Schultern schlang sich ein Geschirrtuch wie ein Schal. Und auf dem Tisch lag die Tafel, auf die er in Griechisch »Guten Morgen, Schwester« geschrieben hatte.
Drei Tage lang neckte er sie wie früher und zog sie an den Haaren und machte unanständige Karaghiozis-Schattenspiele. Desdemona versteckte seine Tafel, doch es war zwecklos. Beim Sonntagsessen nahm er den Füller aus Onkel Petes Hemdtasche und schrieb aufs Tischtuch: »Sagt meiner Schwester, sie wird dick.« Desdemona erbleichte. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und wartete, dass der Hieb, den sie immer gefürchtet hatte, niederging. Aber Peter Tatakis nahm Lefty nur den Füller aus der Hand und meinte:
»Anscheinend lebt Lefty jetzt in dem Wahn, dass du seine Schwester bist« Alle lachten. Was sollten sie auch sonst tun? Hallo, Schwester, sagten sie den ganzen Nachmittag zu Desdemona, und jedes Mal schrak sie zusammen; jedes Mal glaubte sie, ihr würde das Herz stehen bleiben.
Doch dieses Stadium währte nicht lange. Der Verstand meines Großvaters, in seiner Friedhofspirale gefangen, beschleunigte auf seinem Weg in die Selbstzerstörung, und drei Tage danach gurrte er wie ein Säugling, am vierten begann er einzunässen. Als kaum noch etwas von ihm übrig geblieben war, gewährte Gott Lefty Stephanides noch weitere drei Monate, bis zum Winter 1970. Am Ende wurde er ebenso fragmentarisch wie die Gedichte Sapphos, deren Wiederherstellung ihm nicht gelungen war, und eines Morgens schließlich blickte er in das Gesicht der Frau, die die größte Liebe seines Lebens gewesen war, und erkannte sie nicht. Und dann gab es einen weiteren Schlag in seinem Kopf; zum letzten Mal staute sich Blut in seinem Gehirn und spülte die letzten Fragmente seines Ichs davon.
Von Anfang an gab es ein eigenartiges Gleichgewicht zwischen meinem Großvater und mir. Als ich meinen ersten Schrei ausstieß, verstummte Lefty, und als er Stück für Stück die Fähigkeit verlor zu sehen, zu schmecken, zu hören, zu denken oder auch nur sich zu erinnern, begann ich zu sehen, zu schmecken und mich an alles zu erinnern, sogar an Dinge, die ich nicht gesehen, gegessen oder getan hatte. Schon angelegt in mir, wie der zukünftige 190 km/h schnelle Aufschlag eines Tenniswunderkindes, war die Fähigkeit, zwischen den Geschlechtern zu kommunizieren, nicht aus der Monoperspektive eines Geschlechts, sondern mit dem Stereoskop von beiden. Sodass ich nach der Begräbnis zeremonie bei der makaria im Grecian Gardens um den Tisch herum blickte und bei jedem wusste, was er empfand. In Milton tobte ein Gefühlssturm, den er nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Er hatte Angst, er könnte, würde er sprechen, gleich zu weinen anfangen, weswegen er während des gesamten Essens kein Wort hervorbrachte, sondern sich den Mund mit Brot zustopfte. Tessie wurde von einer verzweifelten Liebe zu Pleitegeier und mir ergriffen und umarmte uns und strich uns über die Haare, weil Kinder der einzige Balsam gegen den Tod waren. Sourmelina dachte an den Tag in der Grand Trunk, als sie zu Lefty gesagt hatte, sie werde ihn überall an seiner Nase erkennen. Peter Tatakis beklagte, dass nie eine Witwe seinen Tod beweinen werde. Father Mike dachte zufrieden an seine Trauerrede zurück, die er am Vormittag gehalten hatte, während Tante Zo wünschte, sie hätte einen wie ihren Vater geheiratet.
Die Einzige, deren Gefühle ich nicht ergründen konnte, war Desdemona. Stumm stocherte sie auf ihrem Witwenplatz am Kopfende des Tisches in ihrem Weißfisch und trank ihr Glas Mavrodaphne, doch ihre Gedanken waren mir ebenso verborgen wie ihr Gesicht hinter dem schwarzen Schleier.
Da mir an jenem Tag die Klarsicht in den Seelenzustand meiner Großmutter fehlte, erzähle ich Ihnen einfach, was danach geschah. Nach der makaria stiegen meine Eltern, meine Großmutter,
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