Middlesex
mein Bruder und ich in den Fleetwood meines Vaters. Wir verließen Greektown, ein lila Trauerfähnchen flatterte an der Antenne, und fuhren die Jefferson Avenue hinunter. Der Cadillac war nun drei Jahre alt, so alt, wie kein anderer bei Milton werden sollte. Als wir an der alten Medusa-Zementfabrik vorbeikamen, hörte ich ein langgezogenes Zischen und glaubte, meine jiajia, die neben mir saß, seufze über ihre Schicksalsschläge. Aber dann sah ich, dass der Sitz sich neigte. Desdemona sank tiefer. Sie, die sich vor Autos immer gefürchtet hatte, wurde vom Rücksitz verschlungen.
Es war das Air-Ride. Man sollte es nur einschalten, wenn man über fünfzig Stundenkilometer fuhr. Abgelenkt von seinem Kummer, war Milton bloß vierzig gefahren. Das hydraulische System brach zusammen. Die Beifahrerseite des Wagens senkte sich ab und blieb von da an so. (Und von da an kaufte mein Vater jedes Jahr ein neues Auto.)
Mit Müh und Not kamen wir zu Hause an. Meine Mutter half Desdemona aus dem Auto und führte sie nach hinten zum Gästehaus. Das dauerte eine Weile. Immer wieder stützte sich Desdemona auf ihren Stock, um sich auszuruhen. Als sie schließlich vor ihrer Tür angekommen waren, verkündete sie:
»Tessie, ich leg mich jetzt ins Bett.«
»Ist gut, jiajia«, sagte meine Mutter. »Ruh dich mal aus.«
»Ich leg mich ins Bett«, sagte Desdemona erneut. Dann ging sie hinein. Neben ihrem Bett stand die Seidenraupenkiste, sie war noch offen. Am Morgen hatte sie Leftys Hochzeitskrone herausgenommen und von der ihren abgeschnitten, damit sie mit ihm begraben werden konnte. Eine Weile blickte sie in die Kiste, bevor sie sie schloss. Dann zog sie sich aus. Sie schlüpfte aus ihrem schwarzen Kleid und hängte es in den Kleidersack, der voller Mottenkugeln war. Ihre Schuhe stellte sie in die Schachtel von Penney's zurück. Nachdem sie ihr Nachthemd übergestreift hatte, spülte sie ihre Strumpfhose im Bad aus und hängte sie über die Duschstange. Und dann legte sie sich ins Bett, obwohl es erst drei Uhr am Nachmittag war.
Während der folgenden zehn Jahre verließ sie es, bis auf ein Bad jeden Freitag, nicht mehr.
DIE MITTELMEERKOST
Es gefiel ihr nicht, auf der Erde zurückgelassen zu sein. Es gefiel ihr nicht, in Amerika zurückgelassen zu sein. Sie hatte das Leben satt. Treppensteigen fiel ihr zunehmend schwer. Mit dem Tod ihres Mannes war das Leben einer Frau vorbei. Jemand hatte sie mit dem bösen Blick verhext.
Das waren die Antworten, die Father Mike uns am dritten Tag, nachdem Desdemona sich geweigert hatte aufzustehen, gab. Meine Mutter hatte ihn gebeten, mit ihr zu sprechen, und er war, die Fra-Angelico-Brauen in milder Verzweiflung gehoben, vom Gästehaus zurückgekehrt. »Keine Sorge, das geht vorbei«, sagte er. »So etwas begegnet mir bei Witwen ständig.«
Wir glaubten ihm. Aber mit den Wochen wurde Desdemona nur noch bedrückter und in sich gekehrter. Sonst gewohnt, früh aufzustehen, schlief sie nun lange. Wenn meine Mutter ihr das Frühstückstablett brachte, öffnete Desdemona ein Auge und bedeutete ihr, es hinzustellen. Eier wurden kalt. Kaffee bekam einen Film. Das Einzige, was sie aufrichtete, war die tägliche Abfolge der Seifenopern. Getreulich wie eh und je sah sie sich die untreuen Ehemänner und intriganten Ehefrauen an, aber sie rügte sie nicht mehr, als hätte sie aufgegeben, die Irrtümer der Welt zu korrigieren. Ans Kopfteil gelehnt, das Haarnetz in die Stirn gezogen wie ein Diadem, sah Desdemona altertümlich und unbeugsam aus wie die ältere Königin Viktoria. Eine Königin einer machtvollen Insel, die nur ein Schlafzimmer voller Vögel umfasste. Eine Königin im Exil, die nur noch zwei Bedienstete hatte, Tessie und mich.
»Bete für mich, dass ich werde sterben«, wies sie mich an.
»Bete für jiajia, dass sie sterbt und wieder mit papou zusammen ist.«
... Aber bevor ich mit Desdemonas Geschichte fortfahre, möchte ich Sie im Hinblick auf Neuigkeiten mit Julie Kikuchi auf den letzten Stand bringen. Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Es gibt keine. An unserem letzten Tag in Vorpommern wurde es zwischen Julie und mir sehr innig. Vorpommern gehörte einmal zur DDR. Die Strandvillen von Heringsdorf hatten fünfzig Jahre lang verfallen dürfen. Jetzt, nach der Wiedervereinigung, herrscht ein Immobilienboom. Als Amerikaner spitzten Julie und ich da automatisch die Ohren. Während wir die breite Strandpromenade Hand in Hand entlangschlenderten, überlegten wir, diese oder jene
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