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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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nicht so zimperlich, Callie. Es ist doch bloß ein bisschen... da, ich wisch's dir weg.«
    »Eklig!«
    »Warte nur, bis du welche kriegst!«, brüllte Pleitegeier beschämt und wütend vom Gang her.
    »Ich krieg gar keine.«
    »Doch, du auch! Die Talgdrüsen produzieren bei jedem in der Pubertät zuviel!«
    »Still, ihr beiden«, sagte Tessie, aber das war nicht nötig. Ich war schon von selber still geworden. Es lag an dem Wort: Pubertät. Damals die Quelle einer Riesenmasse angstvoller Spekulationen über mich. Ein Wort, das mir auflauerte, das immer wieder hervorsprang, das mich erschreckte, weil ich nicht genau wusste, was es bedeutete. Heute weiß ich wenigstens eines: Irgendwie hatte Pleitegeier damit zu tun. Vielleicht erklärte das nicht nur die Pickel, sondern auch noch das andere, das ich an meinem Bruder jüngst bemerkt hatte.
    Nicht lange nachdem sich Desdemona ins Bett zurückgezogen hatte, war mir aufgefallen, so vage und spukhaft, wie eine Schwester das bei einem Bruder eben merkt, dass Pleitegeier einem neuen, einsamen Zeitvertreib nachging. Es war eine gewisse wahrnehmbare Aktivität hinter der versperrten Badezimmertür. Eine gewisse Anspannung in der Antwort: »Einen Moment noch«, wenn ich klopfte. Aber ich war ja jünger als er und wusste nichts von den drängenden Nöten heranwachsender Jungen.
    Ich möchte gern etwas weiter ausholen. Drei Jahre davor, als Pleitegeier vierzehn war und ich acht, hatte mein Bruder mir einen Streich gespielt. Es war an einem Abend, als meine Eltern Essen gegangen waren. Es regnete und donnerte. Ich sah fern, als plötzlich Pleitegeier hereinkam. Er hielt mir einen Zitronenkuchen hin. »Sieh mal, was ich habe!«, sang er. Großmütig schnitt er mir ein Stück ab. Er sah mir zu, wie ich es aß. Dann sagte er: »Das petz ich! Der Kuchen war für Sonntag.«
    »Du bist gemein!«
    Ich raste auf ihn los, wollte ihn schlagen, aber er hielt meine Arme fest. Wir rangelten im Stehen, bis Pleitegeier mir schließlich ein Angebot machte.
    Wie schon gesagt: Damals wuchsen der Welt immerzu Augen. Und da waren nun weitere zwei. Sie gehörten meinem Bruder, der im Gästebad zwischen den Luxushandtüchern stand und mir zusah, wie ich die Unterhose runterzog und den Rock hob. (Wenn ich es ihm zeigte, wollte er nicht petzen.) Fasziniert blieb er in einiger Entfernung stehen. Sein Adamsapfel hob und senkte sich. Er wirkte verblüfft und furchtsam. Viel hatte er nicht, mit dem er mich vergleichen konnte, aber was er sah, gab ihm auch keine Fehlinformation: rosa Falten, ein Schlitz. Zehn Sekunden lang betrachtete Pleitegeier meine Dokumente, sah, während die Wolken über uns aufbrachen, dass sie nicht gefälscht waren, und ich verlangte dafür noch ein Stück Kuchen.
    Offenbar war Pleitegeiers Neugier vom Anblick seiner acht Jahre alten Schwester nicht befriedigt worden. Jetzt, so mein Verdacht, sah er sich Bilder von was Richtigem an.
    1971 waren alle Männer in unserem Leben fort: Lefty im Jenseits, Milton bei Hercules Hot Dogs und Pleitegeier in der Einsamkeit des Badezimmers. Blieben als Hilfe für Desdemona nur Tessie und ich.
    Wir mussten ihr die Zehennägel schneiden. Wir mussten Fliegen erlegen, die in ihr Zimmer gelangt waren. Wir mussten ihre Vogelkäfige entsprechend dem Licht herumrücken. Wir mussten ihr den Fernseher für die täglichen Seifenopern an und vor den Morden in den Abendnachrichten wieder ausschalten. Doch Desdemona wollte ihre Würde nicht verlieren. Wenn sie sich erleichtern musste, bestellte sie uns über die Sprechanlage zu sich, dann halfen wir ihr aus dem Bett und auf die Toilette.
    Die einfachste Art, es zu sagen: Jahre vergingen. Im Wechsel der Jahreszeiten vor dem Fenster, wenn die Trauerweiden ihre Millionen Blätter abstreiften, wenn Schnee aufs Flachdach fiel und die Sonne von Tag zu Tag tiefer stand, blieb Desdemona im Bett. Sie war noch drin, wenn der Schnee schmolz und die Weiden wieder knospten. Sie war noch drin, wenn die Sonne, höher steigend, einen Strahl durchs Oberlicht sandte, eine Leiter in den Himmel, die sie mehr denn je erklimmen wollte. Was während Desdemonas Zeit im Bett geschah: Tante Linas Freundin Mrs. Watson starb, und aufgrund des schlechten Urteilsvermögens, das Kummer mit sich bringt, be-schloss Sourmelina, ihr Adobehaus zu verkaufen und wieder in den Norden zu ziehen, damit sie ihrer Familie nahe war. Im Februar 1972 traf sie in Detroit ein. Der Winter war kälter, als sie ihn in Erinnerung hatte. Schlimmer noch, die Zeit

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