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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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bröckelnde alte Villa zu kaufen und herzurichten. »An die Nudisten könnten wir uns gewöhnen«, sagte Julie. »Wir könnten uns auch einen pommerschen Spitz zulegen«, sagte ich. Ich weiß nicht, was über uns gekommen war. Dieses »wir«. Wir waren verschwenderisch damit, wir waren leichtsinnig gegenüber den Folgen. Künstler haben einen sicheren Instinkt für Immobilien. Und Heringsdorf gab Julie Auftrieb. Wir erkundigten uns nach einigen Eigentumswohnungen, in diesen Breiten etwas Neues. Wir besichtigten zwei, drei Häuser. Es war alles sehr ehelich. Unter dem Einfluss jenes alten, aristokratischen Seebads aus dem neunzehnten Jahrhundert benahmen auch Julie und ich uns altmodisch. Wir besprachen die Gründung eines gemeinsamen Hausstands, noch bevor wir überhaupt miteinander geschlafen hatten. Aber von Liebe oder Heirat war natürlich nicht die Rede. Nur von Anzahlungen.
    Auf der Rückfahrt nach Berlin senkte sich jedoch eine vertraute Furcht auf mich herab. Während wir die Straße dahinbrumm-ten, schaute ich voraus. Ich dachte an den nächsten Schritt und daran, was von mir verlangt würde. Die Vorsichtsmaßnahmen, die Erklärungen, die sehr reale Möglichkeit von Schock, Entsetzen, Rückzug, Zurückweisung. Die üblichen Reaktionen.
    »Was ist los?«, fragte Julie mich.
    »Nichts.«
    »Du wirkst so still.«
    »Nur müde.«
    In Berlin setzte ich sie zu Hause ab. Meine Umarmung war kühl, streng. Seitdem habe ich sie nicht mehr angerufen. Sie hat mir auf den Anrufbeantworter gesprochen. Ich habe nicht zurückgerufen. Und jetzt ruft auch sie nicht mehr an. Es ist also aus mit Julie. Aus, bevor es begonnen hat. Und statt mit jemandem eine Zukunft zu teilen, bin ich wieder in der Vergangenheit, bei Desdemona, die überhaupt keine Zukunft wollte...
    Ich brachte ihr das Abendessen, manchmal auch das Mittagessen. Ich trug Tabletts den Portikus aus braunen Metallpfosten entlang. Darüber die Sonnenterrasse, kaum genutzt, das Redwood moderte. Zu meiner Rechten das Badehaus, glatter Sichtbeton. Das Gästehaus nahm die klaren, gradlinigen Konturen des Hauptgebäudes auf. Die Architektur der Middlesex war ein Versuch, reinen Ursprüngen auf die Spur zu kommen. Damals wusste ich von alldem nichts. Aber wenn ich die Tür zu dem Gästehaus mit seinen Oberlichtern aufstieß, sprangen mir die Unvereinbarkeiten ins Auge. Der kastenartige Raum, bar jeden Zierrats, jeder Salonver-spieltheit, ein Raum, der zeitlos oder ahistorisch sein wollte, und mittendrin meine zutiefst historische Großmutter, angenagt vom Zahn der Zeit. Alles an der Middlesex wollte vergessen, und alles an Desdemona verdeutlichte die Unausweichlichkeit des Erin nerns. Da lag sie auf ihrem Kissenfloß, verströmte Kummerdünste, aber auf eine freundliche Art. Das war das Erkennungszeichen meiner Großmutter und der griechischen Frauen ihrer Generation: die Freundlichkeit ihrer Verzweiflung. Wie sie stöhnten, während sie einem Süßigkeiten anboten! Wie sie über körperliche Gebrechen klagten, während sie einem das Knie tätschelten! Meine Besuche heiterten Desdemona immer auf. »Hallo, mein Püppchen-mou«, sagte sie lächelnd. Ich saß auf dem Bett, sie strich mir übers Haar und flötete griechische Koseworte. Meinem Bruder gegenüber tat Desdemona die ganze Zeit, die er bei ihr war, als gehe es ihr gut. Aber bei mir wurden ihre fröhlichen Augen nach zehn Minuten matt, und sie sagte mir, wie es in Wahrheit um sie stand. »Ich bin zu alt jetzt. Zu alt, mein Schätzchen.«
    Ihre lebenslange Hypochondrie hatte nie ein Feld gehabt, auf dem sie besser gedieh. Als Desdemona sich in die Mahagonizelle ihres Himmelbetts einwies, klagte sie nur über ihr übliches Herzklopfen. Aber schon eine Woche später litt sie an Müdigkeit, Schwindelgefühlen und Kreislaufproblemen. »Ich habe Schmerz in Bein. Das Blut, das will nicht laufen.«
    »Ihr geht's gut«, sagte Dr. Philobosian zu meinen Eltern nach einer halbstündigen Untersuchung. »Nicht mehr jung, aber etwas Ernstes kann ich nicht entdecken.«
    »Ich nicht kann atmen!«, wandte Desdemona ein.
    »Ihre Lungen hören sich aber gut an.«
    »Mein Bein ist wie Nadeln.«
    »Reiben Sie es mal. Um den Kreislauf anzuregen.«
    »Er jetzt ist auch zu alt«, sagte Desdemona, nachdem Dr. Phil gegangen war. »Holt mir neuen Arzt, der nicht selber ist schon tot.«
    Meine Eltern taten ihr den Gefallen. Sie brachen unsere Familientreue zu Dr. Phil und holten hinter seinem Rücken neue Ärzte. Einen Dr. Tuttlesworth. Einen

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