Middlesex
Ich stellte mir vor, wie Pleitegeier in einer Armeeuniform im Dschungel hockte. Sah ihn verwundet auf einer Trage und fing an zu weinen. Die Stimme im Radio leierte weiter: »Einundzwanzigster Februar einhunderteinundvierzig. Zweiundzwanzigster Februar - vier undsiebzig. Dreiundzwanzigster Februar - zweihundertsechs.«
Ich wartete bis zum 20. März, Pleitegeiers Geburtstag. Als die Stimme seine Einberufungsnummer ansagte - es war die Zwei hundertneunzig, er würde nie in den Krieg ziehen -, rannte ich in sein Zimmer. Wir sahen uns beide an und - etwas fast nie Dagewesenes - umarmten uns.
Im Herbst ging mein Bruder nicht nach Kanada, sondern nach Ann Arbor. Erneut, wie damals, als Pleitegeiers Ei davonge rutscht war, blieb ich allein zurück. Allein zu Hause, wo ich den wachsenden Ärger meines Vaters über die Abendnachrichten mitbekam, seine Frustration über die (abgesehen vom Napalm)
»blödsinnige« Art, wie die Amerikaner den Krieg führten, und seine wachsende Sympathie für Präsident Nixon. Allein auch, um ein Gefühl von Nutzlosigkeit zu entdecken, das meine Mutter zunehmend plagte. Da Pleitegeier aus dem Haus war und ich größer wurde, hatte Tessie auf einmal zu viel Zeit. Sie begann, im War Memorial Community Center Kurse zu belegen. Sie lernte Scherenschnitte. Sie knüpfte Pflanzenam peln. Unser Haus füllte sich allmählich mit ihren Kunsthand werksprodukten. Mit bemalten Körben und Perlenvorhängen, Briefbeschwerern, in denen diverse Dinge schwebten, getrockneten Blumen, kolorierten Körnern und Bohnen. Sie beschäftigte sich mit Antiquitäten und hängte ein altes Waschbrett an die Wand. Und sie nahm Yoga-Stunden.
Die Kombination aus Miltons Abscheu vor der Antikriegsbe wegung und Tessies Gefühl der Nutzlosigkeit veranlasste meine Eltern, die ganzen einhundertfünfzehn Bände der Great- Books-Reihe lesen zu wollen. Onkel Pete hatte für diese Bücher lange Zeit Reklame gemacht, ja hatte freizügig daraus zitiert, um bei den Sonntagsdebatten Punkte zu sammeln. Und da ohnehin Gelehrsamkeit in der Luft lag - Pleitegeier studierte Maschinenbau, ich hatte meine ersten Lateinstunden bei Miss Silber, die im Unterricht eine Sonnenbrille trug - , fanden Milton und Tessie, es sei an der Zeit, ihre eigene Bildung abzurunden. Die Great Books wurden angeliefert in zehn Kartons, auf denen ihr Inhalt aufgestempelt war. Aristoteles, Platon und Sokrates in einem, Cicero, Marc Aurel und Vergil in einem anderen. Während wir die Bücher in der Middlesex in die Einbauregale stellten, lasen wir die Namen, viele bekannt (Shakespeare), andere nicht (Boethius). Kanon-Schmähung war noch nicht in Mode, und außerdem trugen die ersten Great-Books-Bände Namen, die dem unseren nicht unähnlich waren (Thukydides), also fühlten wir uns dazugehörig. »Das hier ist gut«, sagte Milton und hob Milton hoch. Nur eines enttäuschte ihn, nämlich dass die Reihe kein Buch von Ayn Rand enthielt. Gleichwohl las Milton Tessie noch am selben Abend nach dem Essen vor.
Sie gingen chronologisch an die Arbeit, begannen mit Band eins und steuerten auf Band einhundertfünfzehn zu. Während ich in der Küche Hausaufgaben machte, hörte ich Miltons voll tönende, bohrerartige Stimme sagen: »Sokrates: ›Wie es scheint, gibt es zwei Ursachen für den Niedergang der Künste.‹ Adeimantus: ›Welche sind das?‹ Sokrates: ›Reichtum, sagte ich, und Armut.‹« Als Platon zu schwere Kost wurde, schlug Milton vor, zu Machiavelli weiterzuspringen. Nach einigen Tagen wollte Tessie Thomas Hardy hören, aber nur eine Stunde später legte Milton das Buch, wenig beeindruckt, beiseite. »Zu viel Heide«, klagte er. »Heide hier und Heide da.« Dann lasen sie Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway, was ihnen gefiel, und schließlich gaben sie das Projekt auf.
Ich erwähne den gescheiterten Versuch meiner Eltern, die Great-Books-Reihe in Angriff zu nehmen, nicht ohne Grund. Meine ganzen Entwicklungsjahre hindurch stand sie in unserer Bibliothek, gewichtig und hoheitsvoll mit ihren Goldrücken. Schon damals setzten die Great Books mir zu, drängten mich stumm, den vergeblichsten aller Menschheitsträume zu verfolgen - den Traum, ein Buch zu schreiben, das würdig war, in ihre Reihen aufgenommen zu werden, ein hundertsechzehn tes Great Book mit einem weiteren langen griechischen Namen auf dem Umschlag: Stephanides. Damals war ich jung und voller hehrer Träume. Inzwischen habe ich jede Hoffnung auf bleibenden Ruhm oder literarische Vollendung
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