Middlesex
hatten, am liebsten wattiert.) Dieses Ding befestigte ich jetzt um meine Taille, Verschluss nach vorn, und drehte ihn in die richtige Lage. Dann zog ich die Arme aus den Trikotärmeln, einen nach dem anderen, sodass es wie ein Umhang auf meinen Schultern saß. Darunter fummelte ich den BH meinen Körper hinauf, bis ich mit den Armen durch die Armlöcher stoßen konnte. Als das bewerkstelligt war, schloss ich unter dem Handtuch meinen Kilt, zog das Trikot aus, die Bluse an und warf das Handtuch weg. So war ich nicht eine Sekunde lang nackt.
Der einzige Zeuge meiner Raffinesse war unser Schulmaskottchen. An der Wand hinter mir verkündete ein ausgebleichtes Filztransparent: »1955 State Field Hockey Champions«. Darunter stand in ihrer üblichen unbekümmerten Pose die B & I Wolverette. Mit Knopfaugen, scharfen Zähnen und spitz zulaufender Schnauze stützte sie sich auf einen Hockeyschläger, den rechten Fuß über dem linken Knöchel. Sie trug ein blaues Sporthemd mit roter Schärpe. Zwischen ihren Pelzohren saß ein rotes Band. Es war schwer zu sagen, ob sie lächelte oder knurrte. Unsere Wolverette hatte etwas von der Zähigkeit des Bullterriers von Yale, aber auch eine gewisse Eleganz. Die Wolverette spielte nicht einfach nur, um zu gewinnen. Sie spielte, um ihre Figur zu halten.
Am Trinkbrunnen gleich daneben drückte ich einen Finger auf das Loch, sodass das Wasser hoch in die Luft spritzte. In diesen Strom hielt ich den Kopf. Coach Stork strich uns immer übers Haar, bevor wir gingen, um sicherzugehen, dass es auch nass war.
In dem Jahr, als ich an die Privatschule verfrachtet wurde, ging Pleitegeier ans College. Zwar war er vor dem langen Arm Richter Roth' sicher, dafür hatten sich andere Arme nach ihm ausgestreckt. An einem heißen Tag im Juli, ich war oben gerade über den Flur gegangen, drang eine seltsame Stimme aus Pleitegeiers Zimmer. Es war die Stimme eines Mannes, und er las Zahlen und Daten vor. »Vierter Februar«, sagte die Stimme, »zweiunddreißig. Fünfter Februar - dreihunderteinund zwanzig. Sechster Februar...« Die Falttür war nicht verschlossen, also linste ich hinein.
Mein Bruder lag auf dem Bett, eingewickelt in eine alte Wolldecke, die Tessie ihm mal gehäkelt hatte. Am einen Ende ragte sein Kopf heraus - die Augen glasig -, am anderen waren seine weißen Beine. Ihm gegenüber lief seine Stereoanlage, und die Radionadel schlug aus.
Im Frühjahr hatte Pleitegeier zwei Briefe erhalten, einen von der University of Michigan, in dem man ihm seine Zulassung mitteilte, der andere von der Regierung der Vereinigten Staaten, die ihn über seine Tauglichkeit für die Einberufung informierte. Seitdem hatte mein apolitischer Bruder ein ungewohntes Interesse an den Tagesereignissen gezeigt. Jeden Abend sah er mit Milton die Nachrichten, verfolgte militärische Entwicklungen und achtete sehr genau auf die zurückhaltenden Erklärungen Henry Kissingers bei der Pariser Friedenskonferenz. »Macht ist das größte Aphrodisiakum«, war ein berühmter Ausspruch Kissingers, und er musste wohl stimmen, denn Pleitegeier hing Abend für Abend vor dem Fernseher und beäugte die Machenschaften der Diplomatie. Gleichzeitig war Milton von dem sonderbaren elterlichen, insbesondere väterlichen Wunsch beseelt, ihre Kinder ihre eigenen Leiden wiederholen zu sehen. »Könnte dir nicht schaden, zurn Militär zu gehen«, sagte er. Worauf Pleitegeier antwortete: »Ich geh nach Kanada.« - »Untersteh dich. Wenn sie dich einziehen, wirst du deinem Land genauso dienen wie ich früher.« Und dann Tessie: »Keine Sorge. Das Ganze ist vorbei, bevor sie dich holen können.«
Aber im Sommer '72, als ich meinen von Zahlen überwältigten Bruder beobachtete, war der Krieg noch immer im Gang. Nixons Weihnachtsbombardements warteten noch auf ihre Feiertage. Kissinger pendelte noch zwischen Paris und Washington, um sich seinen Sexappeal zu bewahren. Tatsäch lich sollten die Pariser Friedensabkommen im Januar darauf unterzeichnet werden und die letzten amerikanischen Truppen Vietnam im März verlassen. Doch als ich auf den reglosen Körper meines Bruders schaute, wusste das noch keiner. Mir dämmerte nur, wie merkwürdig es war, ein Mann zu sein. Keine Frage, die Gesellschaft diskriminierte die Frauen. Aber was war mit der Diskriminierung, in den Krieg geschickt zu werden? Welches Geschlecht wurde da wirklich für entbehrlich gehalten? Wie nie zuvor empfand ich ein Mitgefühl für meinen Bruder und den Drang, ihn zu beschützen.
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