Middlesex
aufgegeben. Es ist mir jetzt gleich, ob ich ein großes Buch schreibe, es soll nur eines sein, das, mit welchen Schwächen auch immer, als Dokument meines Lebens Bestand hat.
Des Lebens, das sich, als ich Bücher ins Regal stellte, endlich offenbarte. Denn nun öffnet Calliope einen neuen Karton. Nun nimmt sie Band fünfundvierzig heraus (Locke, Rousseau). Sie streckt sich, ohne sich auf die Zehenspitzen zu stellen, und schiebt ihn aufs oberste Brett. Und da blickt Tessie auf und sagt: »Ich glaube, du wächst, Cal.«
Das erwies sich als Untertreibung. In der siebten Klasse, von Januar bis hinein in den August, durchlief mein bis dahin starrer Körper einen Wachstumsschub von ungewöhnlichen Ausmaßen und unvorhersehbaren Folgen. Obwohl ich zu Hause nach wie vor auf Mittelmeerkost gehalten wurde, wog das Essen an meiner neuen Schule - Hühnerpastete, Fertigbratkartoffeln, gewürfelte Götterspeise - dessen Jungbrunneneffekt auf, sodass ich in jeder Hinsicht bis auf eine wuchs. Ich schoss in die Länge wie die Mungbohnen, die wir in Geokunde durchnahmen. Um die Photosynthese zu begreifen, stellten wir eine Schale ins Dunkel und eine ins Licht und maßen täglich mit einem Zollstock nach. Wie eine Mungbohne reckte sich mein Körper der großen Wachstumslampe am Himmel entgegen, und mein Fall war sogar noch bedeutungsvoller, weil ich auch im Dunkeln wuchs. Nachts schmerzten meine Gelenke. Ich schlief schlecht. Ich wickelte mir Heizkissen um die Beine, lächelte im Schmerz. Denn zusätzlich zu meinem neuen Wachstum tat sich endlich noch etwas anderes. An den erforderlichen Stellen zeigten sich Haare. Jeden Abend bog ich, nachdem ich meine Zimmertür abgeschlossen hatte, meine Schreibtischlampe herunter und zählte sie. In einer Woche waren es drei, in der nächsten sechs, zwei Wochen später siebzehn. Eines Tages kämmte ich sie mit großer Gebärde. »Wurde auch Zeit«, sagte ich, und selbst das war anders: Meine Stimme veränderte sich.
Allerdings nicht über Nacht. Ich erinnere mich an keinen Einschnitt. Vielmehr begann meine Stimme einen langsamen Abstieg, der sich in den nächsten zwei Jahren fortsetzte. Das Durchdringende, das sie gehabt hatte - was ich als Waffe gegen meinen Bruder einsetzte -, verschwand. Das »free« in der Nationalhymne zu treffen gehörte nun der Vergangenheit an. Meine Mutter dachte immerzu, ich sei erkältet. Verkäuferinnen sahen an mir vorbei nach der Frau, die sie nach etwas gefragt hatte. Es war kein unberückender Klang, eine Mischung aus Flöte und Fagott, die Konsonanten leicht verschliffen, die meisten meiner Laute etwas gehetzt und gehaucht. Und dann gab es noch die Anzeichen, die nur ein Linguist heraushören konnte, Mittelschicht-Elisionen, Verzierungen, die aus dem Griechischen in das Genäsel des Mittleren Westens gelangt waren, ein Erbe meiner Großeltern und Eltern, das wie alles andere in mir weiterlebte.
Ich wurde groß. Meine Stimme reifte. Aber nichts schien unnatürlich. Meine schmächtige Gestalt, meine schmale Taille, die Zierlichkeit von Händen und Füßen - das alles veranlasste niemand zu Fragen. Etliche, die, obwohl von den Genen her männlich, als Mädchen aufgezogen wurden, fügen sich nicht so ein. Schon in einem frühen Alter sehen sie anders aus, bewegen sich anders, finden keine passenden Schuhe oder Handschuhe. Andere Kinder nennen sie Bubi oder schlimmer: Riesenbaby, Gorilla. Dass ich so dünn war, tarnte mich. Die frühen siebziger Jahre waren eine gute Zeit, um flachbrüstig zu sein. Das Androgyne war in. Meine staksige Größe und meine Fohlenbeine ließen mich wie ein Model aussehen. Meine Kleider stimmten nicht, mein Gesicht stimmte nicht, aber meine Knochigkeit, die hatte den Saluki-Look. Hinzu kamen mein verträumtes Wesen, meine Lebensfremdheit - jedenfalls passte ich genau ins Bild.
Dennoch passierte es einigen unschuldigen, empfänglichen Mädchen, dass sie in einer Weise auf mich reagierten, die ihnen nicht bewusst war. Ich denke da an Lily Parker, die sich im Aufenthaltsraum immer auf eine Couch legte, den Hinterkopf auf meinen Schoß bettete und sagte: »Hast du aber ein vollendetes Kinn.« Oder an June James, die sich immer meine Haare über den Kopf zog, sodass wir darunter wie in einem Zelt sein konnten. Vielleicht hatte mein Körper ja Pheromone verströmt, die auf meine Schulkameradinnen wirkten. Wie sonst war zu erklären, dass meine Freundinnen an mir zupften, sich an mich lehnten? In diesem frühen Stadium, noch bevor meine
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