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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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seidig, ich jedoch hatte Jimmy Zizmos borstigere Variante. Von Pomade ließ es sich nicht bändigen. Keine First Lady würde es kaufen. Es war Haar, das die Medusa in Stein verwandeln konnte, Haar, das schlangenartiger war als alle Schlangengruben in einem Minotaurosfilm.
    Meine Familie litt. Meine Haare tauchten in jedem Winkel, jeder Schublade, jedem Essen auf. Selbst in den Reispuddings, die Tessie zubereitete und, Schüsselchen für Schüsselchen, mit Wachspapier abdeckte, bevor sie sie in den Kühlschrank schob -selbst in diese prophylaktisch gesicherten Nachtische fanden meine Haare einen Weg! Kohlrabenschwarze Haare wickelten sich um Seifenstücke. Gepresst wie Blumenstängel, lagen sie zwischen Buchseiten. Sie tauchten in Brillenetuis auf, in Geburtstagskarten, einmal - das schwöre ich - sogar in einem Ei, das Tessie gerade aufgeschlagen hatte. Die Nachbarskatze würgte eines Tages einen Haarballen hoch, und die Haare stammten nicht von der Katze. »Ist das eklig!«, schrie Becky Turnbull. »Ich ruf gleich den Kinderschutzbund!« Vergeblich versuchte Milton, mir eine Papierkappe aufzudrängen, die seine Angestellten per Gesetz tragen mussten. Tessie kam, als wäre ich noch sechs, mit einer Haarbürste an.
    »Ich - verstehe - nicht - warum - du - dich - weigerst - dass Sophie - was - mit - deinen - Haaren - macht.«
    »Weil ich sehe, was sie mit ihren macht.«
    »Sophie hat eine richtig nette Frisur.«
    »Aua!«
    »Na, was erwartest du? Das ist das reinste Rattennest.«
    »Lass es einfach.«
    »Halt still.« Und weiter bürsten, ziehen. Mein Kopf ruckte mit jedem Mal. »Kurze Haare sind jetzt sowieso in Mode, Callie.«
    »Bist du jetzt fertig?«
    Ein paar letzte, frustrierte Striche. Dann, klagend: »Binde sie wenigstens nach hinten, damit sie dir nicht ins Gesicht hängen.«
    Was konnte ich ihr sagen? Dass genau darin der Sinn langer Haare bestand? Um sie im Gesicht zu haben? Vielleicht sah ich nicht aus wie Dorothy Hamill. Vielleicht wurde ich unseren Trauerweiden immer ähnlicher. Aber meine Haare hatten auch ihre Vorteile. Sie verdeckten Pferdezähne. Sie verdeckten eine Satyrnase. Sie versteckten Schönheitsfehler und, was das Beste war, sie versteckten mich. Die Haare schneiden? Niemals! Ich ließ sie immer noch weiterwachsen. Mein Traum war, eines Tages in ihnen drin zu leben.
    Und nun stellen Sie sich mich Unglückliche vor, wie ich mit dreizehn in die achte Klasse kam. Eins fünfundsiebzig groß, neunundfünfzig Kilo schwer. Schwarze Haare hängen wie Gardinen zu beiden Seiten meiner Nase. Die Leute klopfen vor meinem Gesicht in die Luft und rufen: »Ist da jemand?«
    Na klar war ich da. Wo sollte ich sonst hin?

WACHSFIGUREN
    Ich bin wieder in meinem alten Trott. Bei meinen einsamen Runden durch den Viktoriapark. Meinen Romeo y Julietas, meinen Davidoff Grand Grus. Meinen Botschaftsempfängen, meinen Philharmoniekonzerten, meinen abendlichen Sitzungen im Felsenkeller. Es ist Herbst, meine liebste Jahreszeit. Der leichte Frost in der Luft, der das Gehirn belebt, all die Schulkind-, Schulzeiterinnerungen, die mit dem Herbst verbunden sind. Hier in Europa hat man nicht das leuchtende Laub wie in Neuengland. Die Blätter schwelen, entflammen aber nicht. Noch ist es warm genug, um Fahrrad zu fahren. Gestern Abend fuhr ich von Schöneberg zur Oranienburger Straße in Mitte. Ich ging mit einem Freund etwas trinken. Als ich danach durch die Straßen fuhr, grüßten mich die intergalaktischen Straßenmädchen. In ihren Manga-Anzügen, ihren Moonboots schüttelten sie ihre toupierten Puppenhaare und riefen Hallohallo. Vielleicht wären sie jetzt genau das Richtige für mich gewesen. Entlohnt dafür, nahezu alles zu tolerieren. Von nichts schockiert zu sein. Und dennoch, als ich an ihrem Strich vorbeiradelte, waren meine Gefühle ihnen gegenüber nicht die eines Mannes. Ich empfand die Abscheu und Verachtung des braven Mädchens, dazu eine merkliche, körperliche Empathie. Während sie mit ihren Hüften zuckten, mich mit ihren dunkel bemalten Augen angelten, sah ich nicht bildlich vor mir, was ich mit ihnen machen könnte, sondern wie es für sie sein musste, es machen zu müssen, Nacht für Nacht, Stunde um Stunde. Die Huren hingegen betrachteten mich nicht allzu genau. Sie sahen meinen Seidenschal, meine Zegna-Hose, meine blitzenden Schuhe. Sie sahen das Geld in meiner Brieftasche. Hallo, riefen sie. Hallo. Hallo.
    AUCH DAMALS WAR ES Herbst, der Herbst 1973. In nur wenigen Monaten sollte ich vierzehn werden.

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