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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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wieder zu Hause, absolvierte die Prüfung beim Auswärtigen Dienst und trat im Jahr darauf eine Stelle im Außenministerium an. Für mich die ideale Arbeit. Drei Jahre an einem Ort, zwei an einem anderen. Nie lange genug, um mich fest an jemanden zu binden. In Brüssel verliebte ich mich in eine Barfrau, die behauptete, meine ungewöhnliche Beschaffenheit störe sie nicht. Ich war so dankbar, dass ich ihr einen Heiratsantrag machte, obwohl ich sie langweilig und anspruchslos fand und sie mir zu viel schrie und schlug. Zum Glück lehnte sie ab und lief mit einem anderen davon. Wen hat es seitdem noch gegeben? Hier und da mal eine, nie etwas Längerfristiges. Und so bin ich, ohne Beständigkeit, in die Routine meiner unvollständigen Verführungen geraten. Ansprechen kann ich gut. Auch Essen- und Trinkengehen. In Hauseingängen knutschen. Aber dann bin ich weg. »Ich habe morgen früh einen Termin beim Botschafter«, sage ich. Und sie glauben mir. Sie glauben, der Botschafter möchte für die bevorstehende Ehrung von Aaron Copland gebrieft werden.
    Es wird immer schwieriger. Bei Olivia und jeder anderen Frau, die nach ihr kam, musste ich mit diesem Wissen zurechtkommen: dem großen Faktum meines Zustands. Das obskure Objekt und ich begegneten uns unvermutet, allerdings in wunderbarer Ahnungslosigkeit.
    NACH DEM GANZEN Geschrei in unserem Haus herrschte, in jenem Winter in der Middlesex, nur Schweigen. Ein so tiefes Schweigen, dass es wie der linke Fuß von Nixons Sekretärin Teile der offiziellen Mitschnitte löschte. Eine matschige, schwer zu fassende Jahreszeit, in der Milton, außerstande zuzugeben, dass Pleitegeiers Ausfälligkeit ihm das Herz gebrochen hatte, vor Wut sichtlich anschwoll, sodass ihm fast bei jeder Gelegenheit der Kragen platzte - vor einer langen roten Ampel oder wenn es zum Nachtisch statt Eiscreme Eismilch gab. (Sein Schweigen war laut, aber gleichwohl ein Schweigen.) Ein Winter, in dem Tessies Sorgen um ihre Kinder sie nahezu völlig lähmte, sodass sie es nicht schaffte, Weihnachtsgeschenke, die nicht gepasst hatten, zurückzugeben, sondern sie einfach nur in den Schrank legte, ohne etwas dafür erstattet zu bekommen.
    Am Ende dieser Versehrten, unaufrichtigen Jahreszeit, als, zurück von ihrem Winter in der Unterwelt, die ersten Krokusse sich zeigten, war Calliope Stephanides, die im Erdreich ihres eigenen Seins etwas rumoren spürte, in die Lektüre der Klassiker vertieft.
    Das Frühjahrshalbjahr der achten Klasse führte mich in Mr. da Silvas Englischunterricht. Unsere Gruppe bestand lediglich aus fünf Schülerinnen, daher trafen wir uns in dem Gewächshaus im ersten Stock. Spinnenpflanzen ließen vom Glasdach Ranken herab. Näher an unseren Köpfen drängten sich Hängegeranien, verströmten einen Geruch irgendwo zwischen Lakritz und Aluminium. Außer mir waren da noch Reetika, Tina, Joanne und Maxine Grossinger. Obwohl unsere Eltern befreundet waren, kannte ich Maxine kaum. Sie hatte wenig Kontakt mit den anderen Kindern am Middlesex Boulevard. Immer übte sie Geige. Sie war das einzige jüdische Mädchen an der Schule. Sie aß ihr Lunchpaket allein, löffelte koscheres Essen aus Tupperwaredosen. Ich glaubte, ihre Blässe rühre daher, dass sie die ganze Zeit drinnen sei, und die blaue Ader, die heftig an ihrer Schläfe pochte, hielt ich für so etwas wie ein inneres Metronom.
    Mr. da Silva kam aus Brasilien. Das sah man ihm schwerlich an. Er war nicht gerade der Karnevaltyp. Das Latinohafte seiner Kindheit (die Hängematte, die Wanne vor dem Haus) war von einer nordamerikanischen Erziehung und einer Liebe zum europäischen Roman hinweggewischt worden. Jetzt war er ein liberaler Demokrat und trug zur Bekräftigung radikalen Gedankenguts schwarze Armbänder. Er unterrichtete in der Sonntagsschule einer hiesigen Episkopalkirche. Er hatte ein rosiges, gepflegtes Gesicht und dunkelblonde Haare, die ihm, wenn er Lyrik vortrug, in die Augen fielen. Manchmal pflückte er sich eine Distel oder Wildblume im Park und steckte sie sich ans Revers. Er hatte einen kleinen, kompakten Körper und machte zwischen den Unterrichtsstunden häufig isometrische Übungen. Er spielte auch Blockflöte. Auf einem Notenständer im Klassenraum lagen Notenblätter, überwiegend Stücke aus dem Frühbarock.
    Mr. da Silva war ein großartiger Lehrer. Er nahm uns in einer Weise ernst, als könnten wir Achtklässler in der fünften Stunde etwas klären, worüber sich die Gelehrten jahrhundertelang gestritten hatten. Er

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