Middlesex
hörte sich unser Gezwitscher an, während sein Haaransatz auf die Augen drückte. Wenn er selbst sprach, dann wie gedruckt. Passte man genau auf, konnte man in seiner Rede sogar die Gedankenstriche und Kommata hören, auch die Strich- und Doppelpunkte. Mr. da Silva hatte für alles, was ihm widerfuhr, ein bedeutendes Zitat parat, und mied so das Leben, wie es wirklich war. Statt etwas zu Mittag zu essen, erzählte er einem, was Oblonsky und Levin in Anna Karenina zu Mittag aßen. Oder indem er einen Sonnenuntergang in Daniel Deronda beschrieb, übersah er den, der gerade über Michigan lag.
Mr. da Silva hatte sechs Jahre zuvor einen Sommer in Griechenland verbracht. Er war noch ganz erfüllt davon. Als er von seinem Besuch der Mani-Halbinsel erzählte, wurde seine Stimme noch weicher als gewöhnlich, und er bekam leuchtende Augen. An einem Abend hatte er, weil er kein Hotel finden konnte, auf der Erde geschlafen und war am nächsten Morgen unter einem Olivenbaum aufgewacht. Diesen Baum hatte Mr. da Silva nie vergessen. Die beiden hatten eine bedeutungsvolle Unterredung gehabt. Olivenbäume sind vertrauliche Wesen, beredt in ihrer Knorrigkeit. Kein Wunder, dass die alten Griechen glaubten, in ihnen könnten menschliche Geister eingeschlossen sein. Und genau das hatte Mr. Silva gespürt, als er in seinem Schlafsack aufgewacht war.
Natürlich war auch ich neugierig auf Griechenland. Ich wollte unbedingt hin. Mr. da Silva spornte mich an, mich als Griechin zu fühlen.
»Miss Stephanides«, rief er mich eines Tages auf. »Da Sie doch aus Homers Land stammen, wollen Sie nicht so freundlich sein, uns etwas vorzulesen?« Er räusperte sich. »Seite neunundachtzig.«
In dem Halbjahr lasen unsere weniger akademisch gesinnten Schwestern A Light in the Forest. Wir im Gewächshaus dagegen arbeiteten uns durch die Ilias. Es war eine Prosaübertragung im Taschenbuch, gekürzt, aus ihrem Versmaß entlassen, der Melodie des Altgriechischen beraubt, trotzdem - was mich betraf - eine phantastische Lektüre. Gott, wie ich dieses Buch liebte! Von dem schmollenden Achilles in seinem Zelt (was mich an die Weigerung des Präsidenten erinnerte, die Tonbänder herauszugeben) bis zu Hektor, wie er an den Füßen um die Stadt geschleift wird (worüber ich weinen musste) - ich war gebannt. Vergessen Sie Love Story. Harvard konnte Troja als Schauplatz nicht das Wasser reichen, und in Segals ganzem Roman gab es nur einen Toten. (Vielleicht war auch das ein Zeichen, dass die Hormone sich lautlos in mir zu manifestieren begannen. Denn während meine Klassenkamera dinnen die Ilias zu blutig fanden, diese endlose Abfolge von Männern, die einander abschlachteten, nachdem sie sich förmlich vorgestellt hatten, begeisterte es mich, wie sie sich gegenseitig erstachen und köpften, die Augen herausbohrten, genüsslich ausweideten.)
Ich schlug mein Taschenbuch auf und senkte den Kopf. Meine Haare fielen nach vorn, schlossen alles aus - Maxine, Mr. da Silva, die Gewächshausgeranien -, nur nicht das Buch. Hinter dem Samtvorhang begann meine Salonsängerinnen stimme zu schnurren: »Aphrodite legte ihren berühmten Gürtel ab, in den alle Reize der Liebe eingewoben sind, Potenz, Begehren, liebliches Gewisper und die Macht der Verführung, welche selbst den Vernünftigsten Voraussicht und Urteilskraft nimmt.«
Es war ein Uhr. Eine Verdauungslethargie hatte sich über den Raum gebreitet. Draußen drohte Regen. Es klopfte an die Tür.
»Entschuldigen Sie bitte, Callie. Könnten Sie einen Augenblick aufhören?« Mr. da Silva wandte sich zur Tür.
»Herein.«
Wie alle andern auch blickte ich auf. In der Tür stand ein rot haariges Mädchen. Am Himmel stießen zwei Wolken zusammen, scheuerten aneinander vorbei und ließen einen Lichtstrahl durch. Dieser Strahl traf das Glasdach des Gewächshauses. Er fuhr durch die Hängegeranien und griff dabei das Orange auf, das nun, als eine Art Lichtmembran, das Mädchen umhüllte. Möglich war auch, dass das alles gar nicht die Sonne tat, sondern eine besondere Kraft, ein Seelenstrahl aus meinen Augen.
»Wir sind mitten im Unterricht, mein Kind.«
»Ich soll in die Klasse hier«, sagte das Mädchen lustlos. Sie hielt ihm einen Zettel hin.
Mr. da Silva warf einen Blick darauf. »Sind Sie sicher, dass Miss Durrell möchte, dass Sie in diese Klasse wechseln?«, sagte er.
»Mrs. Lampe will mich nicht mehr in ihrer Klasse haben«, erwiderte das Mädchen.
»Dann setzen Sie sich. Sie müssen bei jemandem mit
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