Middlesex
mit zu sich nach Hause bringen, wo sie dann mit ihnen leben würde. Desdemona würde bleiben, wo sie war, mit ihren Betperlen klackern und noch älter werden, als sie sich schon fühlte. Ein Hund jaulte. Jemand im Dorf stieß ein Bündel Stöcke um und fluchte. Und meine Großmutter weinte lautlos, weil sie den Rest ihrer Tage damit verbringen würde, Kümmernisse abzubeten, die nie vergehen würden...
... Während sich Lucille Kafkaiis genauso hingestellt hatte, wie es ihr aufgetragen worden war, halb im Licht und halb im Schatten, und sie trug einen weißen, mit Glaskirschen besetzten Hut, eine Mantilla über nackten Schultern, ein hellgrünes dekolletiertes Kleid und Stöckelschuhe, in denen sie sich aus lauter Furcht zu fallen nicht rührte. Ihre dicke Mutter kam grinsend hereingewackelt und schrie: »Da kommt er! Nicht mal eine Minute hat er's bei Victoria ausgehalten!« ...
... Schon konnte er den Essig riechen. Lefty war soeben durch die niedrige Tür des Kafkalis'schen Hauses getreten. Lucilles Vater begrüßte ihn und sagte: »Wir lassen euch beide allein. Damit ihr euch kennen lernt.« Die Eltern zogen sich zurück. Düster war's im Zimmer. Lefty drehte sich um... und ließ eine weitere Korsage fallen.
Was Desdemona nicht bedacht hatte: Auch ihr Bruder hatte sich in die Seiten von Lingerie Parisienné vertieft, und zwar von seinem zw ölften bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr, als ihm die eigentliche Beute in die Hände fiel: zehn postkartengroße, in einem alten Koffer versteckte Fotografien von »Sermin, dem Mädchen vom Tempel der Lust«, einer gelangweilten, birnenförmigen Fünfundzwanzigjährigen, die auf den quastenbehängten Kissen einer Art Serail verschiedene Posen einnahm. Sie im Fach für die Toilettenartikel zu entdecken war, als hätte er an einer Wunderlampe gerieben. In einer Wolke funkelnden Staubs wirbelte sie auf: trug nichts als ein Paar Pantoffeln aus Tausendundeiner Nacht und eine Taillenschärpe (klick); lag träge auf einem Tigerfell, einen Krummsäbel streichelnd (klick); badete, auf ihr ein Gittermuster, in einem Marmor-Hammam. Diese zehn sepia-farbenen Fotografien hatten Lefty neugierig auf die Stadt gemacht. Aber seine ersten Lieben in Lingerie Parisienné hatte er nie ganz vergessen. Nach Gutdünken konnte er sie in seiner Phantasie wachrufen. Als er erkannt hatte, dass Victoria Pappas wie die auf Seite 8 aussah, war das, was Lefty am stärksten beeindruckt hatte, die Diskrepanz zwischen ihr und seinem Jugendidol. Er versuchte, sich eine Ehe mit Victoria vorzustellen, ein Leben mit ihr, doch jedes Bild, das ihm vor Augen kam, hatte in seiner Mitte eine klaffende Leere, es fehlte die Person, die er mehr liebte und besser kannte als jede andere. Und so war er vor Victoria geflüchtet und über die Straße gegangen und hatte Lucille Kafkaiis ebenso enttäuschend gefunden, da sie nicht an die auf Seite 22 heranreichte...
... Und nun passiert's. Desdemona nimmt weinend das Korsett ab, legt es wieder zusammen und in die Aussteuertruhe zurück. Sie wirft sich aufs Bett, Leftys Bett, wo sie weiterweint. Das Kissen riecht nach seiner Limonenpomade, und sie saugt den Duft ein, schluchzend...
... bis sie, betäubt von den Opiaten des Weinens, einschläft. Sie hat den Traum, den sie in letzter Zeit ständig hat. In dem Traum ist alles so, wie es immer war. Sie und Lefty sind wieder Kinder (nur haben sie Erwachsenenkörper). Sie liegen im selben Bett (nur ist es jetzt das Bett ihrer Eltern). Im Schlaf strecken sie ihre Gliedmaßen mal hierhin, mal dorthin (und das fühlt sich außerordentlich schön an, und das Bett ist nass)... in diesem Moment wacht Desdemona auf, genau wie sonst. Ihr Gesicht glüht. Ihr Magen fühlt sich seltsam an, ganz tief drinnen, und jetzt kann sie das Gefühl beinahe benennen...
... Während ich hier auf meinem Aeron-Drehstuhl sitze und mir Gedanken wie E. O. Wilson mache. War es Liebe oder Fortpflanzungstrieb? Zufall oder Schicksal? Ein Verbrechen oder das Werk der Natur? Vielleicht hatte das Gen ja eine Dominanz, die seine Ausprägung sicherstellte, was Desdemonas Tränen und Leftys Schwäche für Prostituierte erklären würde; nicht Zuneigung, nicht Seelenverwandtschaft, nur die Notwendigkeit, dass dieses neue Ding die Weltenbühne betrat, und daher die Scheinmanöver des Herzens. Aber ich kann es nicht erklären, ebenso wenig wie Desdemona oder Lefty es gekonnt hätten, ebenso wenig wie jeder von uns, der sich verliebt, das Hormonale von dem trennen
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