Middlesex
kann, was sich so göttlich anfühlt, und vielleicht klammere ich mich an diesen Gottgedanken aus einem Altruismus heraus, der, nur damit die Spezies erhalten bleibt, fest eingebaut ist; ich weiß es nicht. Ich versuche, mich in eine Zeit zurückzuversetzen, in der man um die Genetik noch nicht wusste, eine Zeit, in der noch nicht jeder aus lauter Gewohnheit sagte: »Das sind die Gene.« Eine Zeit vor unserer gegenwärtigen Freiheit, die so viel freier war! Desdemona hatte keine Ahnung, was da geschah. Sie sah ihr Inneres nicht als komplexen Computer-Code, alles nur 1en und 0en, eine Unendlichkeit von Sequenzen, von denen jede einen Defekt enthalten konnte. Heute wissen wir, dass wir diesen Plan von uns mit uns herumtragen. Selbst während wir an der Straßenecke stehen, diktiert er unser Schicksal. Er pflanzt uns dieselben Runzeln, dieselben Altersflecken aufs Gesicht, wie unsere Eltern sie hatten. Er bewirkt, dass wir auf eine idiosynkratische, erkennbare Familienart schniefen. Gene, die so tief eingebettet sind, dass sie unsere Muskeln kontrollieren, weshalb zwei Schwestern auf dieselbe Weise blinzeln und männliche Zwillinge im gleichen Stil dribbeln. Manchmal fällt mir auf, wie ich, wenn ich unruhig bin, exakt wie mein Bruder mit meinen Nasenknorpeln spiele. Unsere Kehlen und Kehlköpfe, nach denselben Anweisungen geformt, pressen die Luft in ähnlichen Tönen und Dezibel heraus. Und genau das gilt, rückwärts extrapoliert, für die Vergangenheit, sodass, wenn ich spreche, auch Desdemona spricht. Sie ist es, die jetzt diese Wörter schreibt. Desdemona, die keine Ahnung von der Armee in ihr hatte, führt deren Millionen Befehle aus, und auch von dem einen Soldaten nichts wusste, der den Gehorsam verweigerte und sich verkrümelte...
... Wie Lefty, der Lucille Kafkaiis davonlief, zurück zu seiner Schwester. Sie hörte seine rennenden Füße in dem Moment, wo sie gerade wieder ihren Rock zumachte. Sie tupfte sich die Augen mit dem Kopftuch trocken und setzte ein Lächeln auf, als er zur Tür hereinkam.
»Also, für welche hast du dich entschieden?«
Lefty sagte nichts, musterte seine Schwester. Er hatte sein ganzes Leben das Schlafzimmer mit ihr geteilt und wusste, wann sie geweint hatte. Ihre Haare waren aufgelöst, bedeckten fast das ganze Gesicht, doch die Augen, die zu ihm hochschauten, flossen über von Gefühl. »Für keine«, sagte er.
Das bereitete Desdemona ein ungeheures Glück. Aber sie sagte: »Was ist denn los mit dir? Eine musst du nehmen.«
»Die zwei Mädchen sehen aus wie Huren.«
»Lefty!«
»Wirklich.«
»Du willst sie nicht heiraten?«
»Nein.«
»Du musst aber.« Sie machte eine Faust. »Wenn ich gewinne, heiratest du Lucille.«
Lefty, der einem Glücksspiel nie widerstehen konnte, machte ebenfalls eine Faust. »Eins, zwei, drei... los!«
»Axt bricht Stein«, sagte Lefty. »Ich hab gewonnen.«
»Nochmal«, sagte Desdemona. »Wenn ich jetzt gewinne, heiratest du Vicky. Eins, zwei, drei...«
»Schlange frisst Axt. Ich hab wieder gewonnen! Vicky, ade.«
»Wen willst du dann heiraten?«
»Ich weiß nicht.« Er fasste sie an den Händen und sah zu ihr hinab. »Vielleicht dich?«
»Schade, dass ich deine Schwester bin.«
»Du bist nicht bloß meine Schwester. Du bist auch meine Cousine dritten Grades. Und die kann man heiraten.«
»Du spinnst, Lefty.«
»So wäre es doch einfacher. Dann müssten wir das Haus nicht umräumen.«
Scherzend, ohne zu scherzen, nahmen sich Desdemona und Lefty in die Arme. Erst war die Umarmung wie sonst auch, aber nach zehn Sekunden veränderte sie sich; gewisse Stellen, auf denen die Hände lagen, und gewisse Streichelbewegungen der Finger hatten nichts mit dem üblichen Bekunden geschwisterlicher Zuneigung zu tun, und alles zusammen ergab eine eigene Sprache, verkündete eine neue Botschaft in dem stillen Raum. Lefty begann, Desdemona im Walzerschritt herumzuführen; er führte sie nach draußen, durch den Garten, hinüber zur Seidenraupenhütte und wieder zurück durch den Laubengang, und sie lachte und hielt sich die Hand vor den Mund. »Du tanzt aber gut, Vetter«, sagte sie, und wieder machte ihr Herz einen Satz und gab ihr den Gedanken ein, sie könnte auch jetzt, gleich auf der Stelle, in Leftys Armen sterben, aber natürlich starb sie nicht; sie tanzten weiter. Und vergessen wir nicht, wo sie tanzten, in Bithynios, in jenem Bergdorf, wo Vettern manchmal Cousinen dritten Grades heirateten und alle irgendwie verwandt waren, sodass die beiden
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