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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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das Eis, das in unseren Limonadengläsern schmolz. Die Schaukel schwang vor und zurück, knarrte an ihrer rostigen Kette, und es war wie in dem alten Kinderlied: Der kleine Hans Schnecke saß in der Ecke, aß seinen Weihnachtskuchen. Rein fuhr der Daumen, zog raus die Pflaumen... Nachdem sie einen kurzen Moment die Augen verdreht hatte, richtete das Objekt den Blick wieder fest auf mich, und was sie dann empfand, offenbarte sich nur dort, in den grünen Tiefen, die sich in ihren Augen auftaten. Sonst zeigte sie keine Regung. Nur meine Hand bewegte sich, und meine Füße stießen sich, um Schwung zu holen, von dem Geländer ab. Das ging so drei Minuten oder fünf, oder fünfzehn. Ich habe keine Ahnung. Zeit spielte keine Rolle mehr. Irgendwie waren wir uns noch immer nicht ganz dessen bewusst, was wir da taten. Empfinden ging unmittelbar in Vergessen auf.
    Der Verandaboden hinter uns knarrte, ich erschrak. Ich zog den Daumen aus der Hose des Objekts und setzte mich aufrecht hin. Ich sah etwas in den Augenwinkeln und drehte den Kopf. Rechts neben uns auf dem Geländer hockte Jerome. Trotz der Hitze trug er sein Vampirkostüm. Der Puder auf seinem Gesicht war an manchen Stellen abgeblättert, dennoch sah er sehr bleich aus. Er blickte mit seinem besten Ruhelosenausdruck auf uns herab. Seinem Drehung der Schraube-Ausdruck. Der junge Herr, vom Gärtner verführt. Der Junge im Frack, der im Brunnen ertrank. Alles bis auf die Augen war tot. Seine Augen fixierten uns - die nackten Beine des Objekts, die auf meinem Schoß lagen -, ansonsten war sein Gesicht maskenhaft starr.
    Dann sprach die Erscheinung:
    »Mösenlecker.«
    »Hör einfach nicht hin«, sagte das Objekt.
    »Mööösenleckerrr«, wiederholte Jerome. Es klang wie ein Krächzen.
    Jerome blieb stumm und wie ein Ghul auf dem Geländer sitzen. Seine Haare waren nicht zurückgekämmt, sondern hingen schlaff zu beiden Seiten seines Gesichts herunter. Er war sehr beherrscht und wusste genau, was er tat, als folge er einer altbewährten Prozedur. »Mösenlecker«, sagte er wieder.
    »Mösenlecker, Mösenlecker.« Jetzt war es im Singular. Eine Sache zwischen ihm und seiner Schwester.
    »Ich hab gesagt, hör auf, Jerome.« Das Objekt wollte aufstehen. Sie schwang die Beine von meinem Schoß und war im Begriff, sich zu erheben. Doch Jerome war schneller. Er breitete seine Jacke wie Flügel aus und sprang vom Geländer. Wie im Sturzflug stieß er auf das Objekt herab. Noch immer war sein Gesicht völlig regungslos. Seine Mundmuskulatur bewegte sich, mehr nicht. Unablässig krächzte und zischte er in das Gesicht, in die Ohren des Objekts: »Mösenlecker, Mösenlecker, Mösenlecker, Mösenlecker.«
    »Lass das!«
    Sie wollte ihn schlagen, doch er packte sie an den Armen, hielt beide Handgelenke mit einer Hand fest. Mit den Fingern der anderen machte er ein V. Dieses V presste er sich gegen den Mund und schnellte die Zunge immerzu in das anzügliche Dreieck. Die Derbheit der Geste brachte die Ruhe des Objekts ins Wanken. Ein Schluchzer stieg in ihr auf. Jerome spürte ihn kommen. Über zehn Jahre lang hatte er seine Schwester zum Weinen gebracht; er wusste, wie das ging; er verhielt sich wie ein Junge, der eine Ameise mit einer Lupe verbrannte, den Strahl immer heißer werden ließ.
    »Mösenlecker, Mösenlecker, Mösenlecker, Mösenlecker...« Und dann passierte es. Das Objekt verlor die Fassung. Sie heulte los wie ein kleines Mädchen. Ihr Gesicht lief rot an, und sie fuchtelte mit den Fäusten, bis sie ins Haus stürzte.
    An dem Punkt klang Jeromes heftige Inszenierung ab. Er zog sich die Jacke zurecht. Er strich sich übers Haar, lehnte sich gegen das Geländer und schaute friedvoll aufs Wasser.
    »Keine Sorge«, sagte er zu mir, »ich sag keinem was.«
    »Was sagst du keinem?«
    »Du kannst von Glück reden, dass ich so ein liberaler und freigeistiger Typ bin«, fuhr er fort. »Die meisten fänden es nicht gerade toll, wenn sie rauskriegen, dass sie von einer Lesbe mit ihrer eigenen Schwester betrogen worden sind. Das ist doch irgendwie peinlich, findest du nicht? Aber ich bin so ein Freigeist, dass ich bereit bin, deine Neigungen zu ignorieren.«
    »Halt doch endlich die Klappe, Jerome.«
    »Ich halt die Klappe, wann ich will«, sagte er. Dann drehte er sich zu mir und sah mich an. »Weißt du, wo du jetzt bist? In Verpissdorf, Stephanides. Hau ab und komm nie wieder her. Und lass die Finger von meiner Schwester.«
    Ich war längst aufgesprungen. Mein Blut raste. Es

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