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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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dass diese Fahrt so lange wie möglich dauerte. Das Objekt strich mir über den Kopf. Das hatte sie bei Tageslicht noch nie gemacht.
    »Ich hab deinen Bruder verprügelt«, sagte ich aus heiterem Himmel.
    Das Objekt schob mit einer Hand die Haare beiseite. Das Licht stach herein.
    »Callie! Ist alles in Ordnung?«
    Ich lächelte sie an. »Hab ihn fertig gemacht.«
    »O Gott«, sagte sie. »Ich hatte solche Angst. Hab gedacht, du bist tot. Du hast einfach da - da«, ihre Stimme überschlug sich, »auf der Straße gelegen.«
    Die Tränen kamen - nun Tränen der Dankbarkeit, nicht mehr der Wut wie vorher. Das Objekt schluchzte. Ehrfürchtig gewahrte ich den Sturm der Gefühle, der sie schüttelte. Sie senkte den Kopf. Sie presste ihr schniefendes, nasses Gesicht an meines, und zum ersten und letzten Mal küssten wir uns. Der Rücksitz, die Haarwand boten uns Deckung, und wem sollte der Farmer schon etwas sagen? Die angstvollen Lippen des Objekts berührten meine, und sie schmeckten süß und salzig zugleich.
    »Ich bin ganz verrotzt«, sagte sie, das Gesicht wieder hebend. Sie bewerkstelligte ein Lachen.
    Aber da hielt der Wagen schon. Der Farmer sprang heraus und brüllte etwas. Er riss die Hintertür auf. Zwei Pfleger erschienen und hoben mich auf eine Ferno-Trage. Sie rollten mich über den Gehweg, durch die Krankenhaustür. Das Objekt blieb an meiner Seite. Sie nahm meine Hand. Auf einmal schien ihr aufzufallen, dass sie halb nackt war. Sie blickte an sich hinab, als ihre bloßen Füße auf das kalte Linoleum trafen. Doch sie schüttelte den Gedanken ab. Den ganzen Flur entlang, bis die Sanitäter dazwischengingen, hielt sie meine Hand. Als wäre sie eine Rolle Piräus-Garn. »Sie können hier nicht rein, Fräulein«, sagten die Pfleger. »Sie müssen hier warten.« Also wartete sie. Aber noch immer ließ sie meine Hand nicht los. Eine lange Weile nicht. Das Bett wurde den Flur entlanggerollt, und mein Arm reckte sich nach dem Objekt. Ich hatte meine Reise schon angetreten. Ich fuhr übers Meer zu einem anderen Land. Mein Arm war nun zehn Meter lang, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig. Ich hob den Kopf von der Trage, um nach dem Objekt zu sehen. Nach dem obskuren Objekt. Noch einmal war sie dabei, mir zu einem Rätsel zu werden. Was ist wohl aus ihr geworden? Wo ist sie jetzt? Sie stand am Ende des Gangs und hielt meinen sich abspulenden Arm. Sie wirkte verfroren, dünn, fehl am Platz, verloren. Als wüsste sie, dass wir einander nie mehr wiedersehen würden. Die Trage wurde schneller. Mein Arm war jetzt nur noch ein dünnes Band, das sich durch die Luft ringelte. Schließlich kam der unausweichliche Augenblick. Das Objekt ließ los. Meine Hand flog auf, frei, leer.
    Lampen über mir, hell und rund, wie bei meiner Geburt. Das gleiche Quietschen weißer Schuhe. Doch Dr. Philobosian war nirgends zu sehen. Der Arzt, der zu mir herablächelte, war jung und hatte rotblonde Haare. Er hatte einen ländlichen Akzent.
    »Ich stelle dir erst mal ein paar Fragen, ja?«
    »Ist gut.«
    »Fangen wir mit deinem Namen an.«
    »Callie.«
    »Wie alt bist du, Callie?«
    »Vierzehn.«
    »Wie viele Finger halte ich hoch?«
    »Zwei.«
    »Und jetzt zähl bitte rückwärts. Von zehn ab.«
    »Zehn, neun, acht...«
    Und während der ganzen Zeit befühlte er mich, tastete nach Brüchen. »Tut das weh?«
    »Nein.«
    »Das?«
    »M-hm.«
    »Und da?«
    Plötzlich tat es wirklich weh. Ein Blitz, ein Kobrabiss, unterhalb des Nabels. Der Schrei, den ich ausstieß, war Antwort genug.
    »Schon gut, schon gut, wir sind ganz vorsichtig. Ich muss es mir nur noch ansehen. Lieg jetzt bitte still.«
    Der Arzt gab der Schwester ein Zeichen. Von beiden Seiten begannen sie, mich auszuziehen. Die Schwester zog mir das Shirt über den Kopf. Da war meine Brust, unfertig, trostlos. Sie beachteten sie nicht. Ich auch nicht. Unterdessen hatte der Arzt meinen Gürtel gelöst. Nun öffnete er den Verschluss meiner Khakis: Ich ließ es geschehen. Die Hose kam herunter. Ich sah zu wie von fern. Ich dachte an etwas anderes. Mir war eingefallen, wie das Objekt die Hüften angehoben hatte, damit ich ihr die Unterhose ausziehen konnte. Das kleine Signal der Einwilligung, des Begehrens. Ich dachte daran, wie schön ich es gefunden hatte, wenn sie das tat. Jetzt griff die Schwester unter mich. Also hob ich die Hüften.
    Sie fassten meine Unterhose. Sie zerrten sie herunter. Das Gummiband schnitt mir in die Haut, rutschte dann fort.
    Der Arzt beugte sich vor, murmelte etwas.

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