Middlesex
Die Schwester hob ziemlich unprofessionell eine Hand an den Hals und tat, als nestelte sie am Kragen.
Tschechow hatte Recht. Wenn an der Wand eine Waffe ist, muss sie auch losgehen. Im wirklichen Leben weiß man allerdings nie, wo die Waffe hängt. Aus der Waffe, die mein Vater unterm Kissen hatte, wurde nie ein Schuss abgefeuert. Aus der Flinte überm Kamin des Sommerhauses auch nicht. Aber in der Notaufnahme war alles anders. Da war kein Rauch, kein Pulvergeruch, überhaupt kein Geräusch. Nur an der Reaktion des Arztes und der Schwester war abzulesen, dass mein Körper den narrativen Erfordernissen nun entsprach.
Eine Szene aus diesem Abschnitt meines Lebens bleibt noch zu schildern. Sie ereignete sich eine Woche später, in der Middlesex, und zeigte mich, einen Koffer und einen Baum. Ich war in meinem Zimmer und saß auf der Fensterbank. Es war kurz vor Mittag. Ich war reisefertig gekleidet, grauer Hosenanzug, weiße Bluse. Ich langte aus dem Fenster und zupfte Beeren von dem Maulbeerbaum davor. Schon die ganze letzte Stunde hatte ich Beeren gegessen, um mich von dem Geräusch abzulenken, das aus dem Schlafzimmer meiner Eltern drang.
Die Maulbeeren waren gerade eine Woche reif. Sie waren dick und saftig. Die Beeren färbten meine Hände. Der Gehweg draußen war purpurrot befleckt, auch das Gras und die Steine in den Blumenbeeten. Das Geräusch in dem Schlafzimmer meiner Eltern war das Weinen meiner Mutter.
Ich stand auf. Ich ging zu meinem Koffer und öffnete ihn, um nachzusehen, ob ich auch alles eingepackt hatte. Meine Eltern und ich sollten in einer Stunde abreisen. Wir wollten nach New York zu einem berühmten Arzt. Ich wusste nicht, wie lange wir weg sein würden oder was mir fehlte. Ich achtete nicht sehr auf die Einzelheiten. Ich wusste nur, ich war kein Mädchen wie andere Mädchen mehr.
Im sechsten Jahrhundert schmuggelten orthodoxe Mönche Seide aus China. Sie brachten sie nach Kleinasien. Von dort eroberte sie Europa und kam schließlich übers Meer nach Nordamerika. Benjamin Franklin förderte die Seidenindustrie in Pennsylvania noch vor der Amerikanischen Revolution. Überall in den Vereinigten Staaten wurden Maulbeerbäume gepflanzt. Als ich aber, am Fenster stehend, diese Beeren zupfte, hatte ich keine Ahnung, dass unser Maulbeerbaum mit dem Seidenhandel zusammenhing oder dass meine Großmutter genau solche Bäume hinter ihrem Haus in der Türkei gehabt hatte. Jener Maulbeerbaum hatte einfach so vor meinem Zimmer in der Middlesex gestanden und mir nie seine Bedeutung enthüllt. Aber nun ist alles anders. Jetzt scheinen all die stummen Gegenstände meines Lebens meine Geschichte zu erzählen, in die Vergangenheit zurückzureichen, vorausgesetzt, ich sehe genau genug hin. Daher kann ich diesen Abschnitt meines Lebens unmöglich beenden, ohne das Folgende zu erwähnen:
Die am häufigsten gezüchtete Seidenraupenart, die Larve der Bombyx mori, existiert nirgendwo mehr in der Natur. Wie meine Enzyklopädie es so treffend formuliert: »Die Beine der Larven sind degeneriert, und die geschlüpften Tiere können nicht fliegen.«
VIERTES BUCH
DAS ORAKEL DER VULVA
Von meiner Geburt an, bei der sie unentdeckt blieben, über meine Taufe, wo sie einem Priester die Schau stahlen, bis hin zu meiner leidvollen Jugendzeit, während der sie nicht eben viel und dann alles auf einmal taten, waren und sind meine Genitalien das Bedeutsamste, was mir je widerfahren ist. Manche erben Häuser, andere Gemälde oder hoch versicherte Geigenbögen. Wieder andere bekommen eine japanische Tansu-Kommode oder einen berühmten Namen. Ich habe auf meinem Chromosom fünf ein rezessives Gen und wahrlich ausgefallene Klunker.
Meine Eltern hatten sich anfangs geweigert, der wilden Behauptung des Notarztes im Hinblick auf meine Anatomie zu glauben. Die Diagnose, einem weitgehend verständnislosen Milton am Telefon übermittelt und dann von diesem um Tessies willen zensiert, belief sich auf eine vage Sorge, die die Ausformung meiner Harnwege sowie einen möglichen hormonalen Mangel betraf. Der Arzt in Petoskey hatte keine Chromosomenuntersuchung durchgeführt. Seine Aufgabe war es, meine Gehirnerschütterung und meine Quetschungen zu behandeln, und nachdem er das getan hatte, entließ er mich.
Meine Eltern wollten eine zweite Meinung einholen. Auf Mil tons Drängen wurde ich ein letztes Mal zu Dr. Phil gebracht.
1974 war Dr. Nishan Philobosian achtundachtzig Jahre alt. Er trug noch immer eine Fliege, doch sein Hals füllte den
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