Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
Vom Netzwerk:
Hemdkragen nicht mehr aus. Alle seine Körperteile waren geschrumpft, gefriergetrocknet. Gleichwohl ragten grüne Golfhosenbeine unterdem Saum seines weißen Kittels hervor, und eine getönte Pilotenbrille umfasste seinen unbehaarten Kopf.
    »Hallo, Callie, wie geht's dir?«
    »Gut, Dr. Phil.«
    »Fängt bald die Schule wieder an? In welcher Klasse bist du jetzt?«
    »Ich komme jetzt in die neunte. Highschool.«
    »Highschool? Schon? Ich werde wohl alt, was?«
    Seine höfliche Art war nicht anders, als sie es stets gewesen war. Die fremdartigen Laute, die er noch immer von sich gab, die Spuren des Ersten Weltkriegs in seinen Zähnen beruhigten mich irgendwie. Mein ganzes Leben lang hatten mich ehrwürdige Ausländer gehätschelt und verwöhnt. Die sanfthändigen levantinischen Zuwendungen bedeuteten mir viel. Als kleines Mädchen hatte ich bei Dr. Philobosian auf den Knien gesessen, während seine Finger meine Wirbelsäule erklommen und die Wirbel zählten. Jetzt war ich größer als er, schlaksig, mit monströser Frisur, ein Tiny Tim von einem Mädchen, das da in Kittel, BH und Unterhose auf der Kante eines altmodischen Behandlungstischs mit Trittschubladen aus vulkanisiertem Gummi saß. Er hörte mir Herz und Lungen ab, und an dem langen Hals neigte sich sein Kahlkopf wie der eines Brontosaurus, der Blätter rupft.
    »Wie geht's deinem Vater, Callie?«
    »Gut.«
    »Was macht das Hotdog-Geschäft?«
    »Alles prima.«
    »Wie viele Hotdog-Lokale hat dein Dad inzwischen?«
    »So um die fünfzig.«
    »Wo Schwester Rosalie und ich im Winter hinfahren, ist eins ganz in der Nähe. Pompano Beach.«
    Er untersuchte meine Augen und Ohren und bat mich dann, aufzustehen und meine Unterhose nach unten zu ziehen. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Dr. Philobosian seinen Lebensunterhalt mit der Behandlung ottomanischer Damen in Smyrna verdient. Anstand war ihm eine alte Gewohnheit.
    Mir war nicht schwummrig wie in Petoskey. Ich war mir dessen, was geschah und worauf sich die medizinische Aufmerksamkeit richtete, vollauf bewusst. Nachdem ich mein Höschen auf die Knie gezogen hatte, durchflutete mich eine Welle der Verlegenheit, und reflexartig bedeckte ich mich mit einer Hand. Dr. Philobosian schob sie, nicht sonderlich sanft, beiseite. Darin lag etwas von der Ungeduld der Alten. Vorübergehend vergaß er sich, und seine Augen funkelten böse hinter den Pilotengläsern. Dennoch blickte er mich unten nicht an. Ritterlich schaute er zur gegenüberliegenden Wand, während er mit den Händen nach Informationen tastete. Wir standen so dicht voreinander, als tanzten wir. Dr. Phil atmete geräuschvoll, seine Hände zitterten. Ich selbst schaute nur einmal an mir herab. Meine Verlegenheit hatte mich zurückver wandelt. Aus meiner Sicht war ich wieder ein Mädchen, weißer Bauch, dunkles Dreieck, glatt rasierte, perspektivisch verkürzte Beine. Mein Büstenhalter hing über meiner Brust wie ein Patronengurt.
    Es dauerte nur eine Minute. Der alte Armenier, kauernd, mit Eidechsennacken, strich mit seinen gelben Fingern über meine Scham. Es überraschte nicht, dass Dr. Philobosian nie etwas bemerkt hatte. Selbst jetzt, auf die Möglichkeit hingewiesen, schien er nichts davon wissen zu wollen.
    »Du kannst dich wieder anziehen.« Mehr sagte er nicht. Er drehte sich um und ging sehr vorsichtig zum Waschbecken. Er ließ das Wasser laufen und stieß die Hände in den Strahl. Sie schienen mehr denn je zu zittern. Großzügig spritzte er die antibakterielle Seife aus dem Spender. »Grüß deinen Dad von mir«, sagte er, bevor ich aus dem Zimmer ging.
    Dr. Phil überwies mich an einen Endokrinologen am Henry Ford Hospital. Der Endokrinologe zapfte in meinem Arm eine Ader an und füllte bestürzend viele Röhrchen mit meinem Blut. Wozu das ganze Blut benötigt wurde, sagte er mir nicht. Ich hatte zu viel Angst, um zu fragen. Allerdings legte ich an jenem Abend das Ohr an die Schlafzimmerwand, um zu erfahren, was vor sich ging. »Also, was hat der Arzt gesagt?«, fragte Milton.
    »Er hat gesagt, Dr. Phil hätte es schon bei Callies Geburt bemerken müssen«, antwortete Tessie. »Die ganze Geschichte hätte schon damals gerichtet werden können.« Dann wieder Milton: »Kaum zu glauben, dass ihm so etwas nicht aufgefallen ist.« (»Was denn?«, fragte ich stumm die Wand, doch mit Genauerem rückte sie nicht heraus.)
    Drei Tage später trafen wir in New York ein.
    Milton hatte uns ein Zimmer in einem Hotel namens Lochmoor in den East Thirties

Weitere Kostenlose Bücher