Middlesex
Situation, wie immer man sie benannte, eine Art Krise war. Das erkannte ich an dem aufgesetzt fröhlichen Verhalten meiner Eltern, und auch unser überstürzter Aufbruch von zu Hause hatte es mir gezeigt. Trotzdem hatte noch keiner ein Wort zu mir gesagt. Milton und Tessie behandelten mich genau wie sonst - mit anderen Worten, als ihre Tochter. Sie benahmen sich, als sei mein Problem ein medizinisches und mithin lösbar. Also hoffte ich das auch. Wie jemand mit einer unheilbaren Krankheit übersah ich freudig die Symptome und hoffte auf Heilung in letzter Minute. Ich schwankte zwischen Hoffnung und ihrem Gegenteil, einer wachsenden Gewissheit, dass mit mir etwas Furchtbares nicht stimmte. Aber nichts machte mich verzweifelter als ein Blick in den Spiegel.
Ich öffnete die Tür und trat wieder ins Zimmer. »Ich hasse dieses Hotel«, sagte ich. »Es ist eklig.«
»Besonders schön ist es nicht«, pflichtete Tessie mir bei.
»Früher war's mal schöner«, sagte Milton. »Ich begreife nicht, was da passiert ist.«
»Der Teppich riecht.«
»Dann machen wir eben das Fenster auf.«
»Vielleicht müssen wir ja gar nicht lange hier sein«, sagte Tessie hoffnungsvoll, erschöpft.
Abends wagten wir uns vor die Tür, holten uns etwas zum Essen, gingen zurück aufs Zimmer und sahen fern. Später, als wir das Licht gelöscht hatten, fragte ich von meiner Liege aus:
»Was machen wir morgen?«
»Morgen früh gehen wir zu dem Arzt«, sagte Tessie.
»Und dann holen wir uns Karten für was am Broadway«, sagte Milton. »Was möchtest du sehen, Cal?«
»Ist mir egal«, sagte ich düster.
»Ich finde, wir sollten in ein Musical gehen«, sagte Tessie.
»Ich hab mal Ethel Merman in Marne gesehen«, erinnerte sich Milton. »Sie kam so eine große, lange Treppe herunter und sang dabei. Als sie fertig war, hat der ganze Saal dermaßen getobt, dass sie erst nicht weitermachen konnten. Deshalb ist sie einfach die Treppe wieder raufgegangen und hat den Song nochmal gesungen.«
»Möchtest du dir gern ein Musical ansehen, Callie?«
»Mir gleich.«
»Das Tollste, was ich je gesehen habe«, sagte Milton. »Diese Ethel Merman hat's wirklich in der Kehle.«
Danach sagte keiner mehr etwas. Wir lagen im Dunkeln, in unseren fremden Betten, bis wir einschliefen.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück machten wir uns zu dem Spezialisten auf. Meine Eltern gaben sich auf dem Weg ganz aufgeregt und zeigten aus dem Taxifenster auf Sehenswürdigkeiten. Milton verströmte die lärmende Ausgelassenheit, die er für alle schwierigen Situationen bereithielt. »Na, das ist aber eine Lage«, sagte er, als wir am New York Hospital vorfuhren. »Blick auf den Fluss! Da möchte ich mich am liebsten selbst einweisen.«
Wie jedem Teenager blieb mir die ungelenke Figur, die ich abgab, weitgehend verborgen. Meine storchenartigen Bewegungen, meine schlenkernden Arme, meine langen Beine, die meine zu kleinen Füße in ihren rehbraunen Wallabees herumstießen - diese ganze Apparatur schepperte unter dem Aussichtsturm meines Kopfes, und ich war zu dicht dran, um es zu bemerken. Aber meine Eltern bemerkten es. Bekümmert beobachteten sie mich, als ich vor ihnen übers Trottoir zum Eingang des Krankenhauses ging. Es war beängstigend, sich das eigene Kind in den Klauen unbekannter Kräfte vorzustellen. Ein Jahr lang hatten sie meine Veränderungen nun geleugnet und sie meinem komischen Alter zugeschrieben. »Das verliert sich bestimmt«, hatte Milton immer zu meiner Mutter gesagt. Nun aber hatte sie die Angst gepackt, sie könnten die Kontrolle über mich verlieren.
Wir entdeckten den Lift und fuhren in den dritten Stock, folgten dann den Pfeilen zu einer so genannten Psychohormonalen Station. Milton hatte die Zimmernummer auf einer Karte. Schließlich fanden wir das richtige Zimmer. Die graue Tür war unbezeichnet bis auf ein winzig kleines, unauffälliges Schild auf halber Höhe, auf dem stand:
Ambulanz für sexuelle Störungen und geschlechtliche Identität Falls meine Eltern das Schild sahen, gingen sie darüber hinweg. Milton senkte wie ein Stier den Kopf und stieß die Tür auf.
Die Schwester am Empfang begrüßte uns und bat uns, Platz zu nehmen. Das Wartezimmer war völlig unauffällig. An den Wänden standen Stühle, von Zeitschriftentischchen gleichmäßig gruppiert, und in einer Ecke kümmerte der übliche Gummibaum vor sich hin. Die Auslegeware entsprach Bürostandard, sie hatte ein hektisches, Flecken tarnendes Muster. Sogar ein beruhigender
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