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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Quatsch!«
    Das Fluchen, die Rasierme sser, die Rasierpinsel, das alles war meine Aufnahme in die Männerwelt. Bei dem Friseur lief Football im Fernseher. Der Kalender zeigte eine Wodkaflasche und ein hübsches Mädchen in einem weißen Fellbikini. Ich pflanzte die Füße auf das Waffeleisen der Fußstütze, während er mich vor den blitzenden Spiegeln hin und her drehte.
    »Herr im Himmel, wann warst du überhaupt das letzte Mal beim Friseur?«
    »Erinnern Sie sich an die Mondlandung?«
    »Ja. Das dürfte hinkommen.«
    Er drehte mich zum Spiegel. Und da war sie, zum letzten Mal, auf der silberbeschichteten Scheibe: Calliope. Noch gab es sie. Sie war wie ein gefangener Geist, der herausspähte.
    Ed der Friseur grub einen Kamm in meine Mähne. Er hob sie probeweise an, schnippte dabei mit der Schere. Die Klingen berührten meine Haare noch nicht. Das Schnippen war nur eine Art geistiges Frisieren, eine Lockerungsübung. Das gab mir Zeit, alles noch einmal zu überdenken. Was tat ich hier? Wenn Dr. Luce doch Recht hatte? Wenn das Mädchen da im Spiegel tatsächlich ich war? Wie kam ich darauf, so leicht auf die andere Seite desertieren zu können? Was wusste ich schon über Jungen, über Männer? Ich mochte sie nicht einmal besonders.
    »Das ist ja, als würde man 'nen Baum fällen«, meinte Ed. »Als Erstes werden die Äste abgehackt. Dann ist der Stamm dran.« Ich schloss die Augen. Ich weigerte mich, Calliopes Blick noch länger zu erwidern. Ich packte die Armlehnen und wartete darauf, dass der Friseur sich an die Arbeit machte. Aber da klirrte die Schere aufs Bord. Summend lief die elektrische Haarschneidemaschine an. Sie umkreiste meinen Kopf wie eine Biene. Erneut hob Ed der Friseur meine Haare mit dem Kamm, und schon hörte ich die Maschine auf meinen Kopf zusausen.
    »Und losgeht's«, sagte er.
    Meine Augen waren noch immer zu. Aber ich wusste, jetzt gab es kein Zurück mehr. Der Haarschneider eggte über meine Kopfhaut. Ich hielt dem stand. Haare fielen in Bahnen herab.
    »Eigentlich müsste ich 'nen Aufpreis verlangen«, sagte Ed. Besorgt über die Kosten, öffnete ich nun die Augen. »Wie viel macht das?«
    »Keine Sorge. Derselbe Preis. Das ist heute meine patriotische Tat. Ich sichere die Welt für die Demokratie.«
    Meine Großeltern waren eines Krieges wegen aus ihrer Heimat geflohen. Jetzt, rund zweiundfünfzig Jahre später, floh ich selbst. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich ebenso endgültig rettete. Ohne viel Geld in der Tasche und unter Pseudonym floh ich vor meinem Geschlecht. Mich trug kein Schiff über den Ozean; stattdessen beförderte mich eine Reihe Autos quer über einen Kontinent. Wie Lefty und Desdemona wurde auch ich ein neuer Mensch, und ich wusste nicht, was in dieser neuen Welt, in die ich gekommen war, mit mir geschehen würde.
    Ich hatte auch Angst. Noch nie war ich allein unterwegs gewesen. Ich wusste nicht, wie die Welt funktionierte oder was irgendetwas kostete. Vom Lochmoor-Hotel war ich mit dem Taxi zum Busbahnhof gefahren, ohne zu wissen, wo er lag. Am Port Authority schlenderte ich auf der Suche nach den Fahrkarten schaltern an Krawattenläden und Schnellimbissen vorbei. Als ich sie gefunden hatte, kaufte ich eine Fahrkarte für einen Nachtbus nach Chicago und bezahlte bis Scranton, Pennsylvania, so weit ich es mir, wie ich meinte, eben leisten konnte. Die Penner und Junkies, die sich auf den U-förmigen Bänken breit machten, musterten mich von oben bis unten, manche zischten oder schmatzten mit den Lippen. Auch sie ängstigten mich. Fast gab ich meinen Plan abzuhauen auf. Wenn ich mich beeilte, schaffte ich es noch zum Hotel, bevor Milton und Tessie von ihrer Carol Channing zurück wären. Ich saß im Warteraum und überlegte hin und her, die Kanten des Samsonite zwischen den Knien, als könnte jemand ihn mir jeden Moment wegschnappen. Ich spielte im Kopf Szenen durch, in denen ich meine Absicht erklärte, von jetzt an als Junge zu leben, und meine Eltern nach anfänglichem Protest einknickten und mich akzeptierten. Ein Polizist ging vorbei. Als er fort war, setzte ich mich neben eine Frau mittleren Alters in der Hoffnung, für ihre Tochter gehalten zu werden. Über den Lautsprecher verkündete eine Stimme, mein Bus könne nun bestiegen werden. Ich sah mir die anderen Fahrgäste an, die Armen, die nachts fuhren. Da war ein alternder Cowboy mit einem Seesack und einer kleinen Louis-Armstrong- Souvenirstatuette; da waren zwei katholische Priester aus Sri Lanka; da waren

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