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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Koffer und rannte hin. Als ich den Laster jedoch erreicht hatte, hielt ich inne. Die Tür war so weit oben. Das riesige Fahrzeug ragte grollend, bebend vor mir auf. Von meiner Stelle aus konnte ich den Fahrer gar nicht sehen; von Unentschlossenheit gelähmt stand ich da. Auf einmal erschien das Gesicht des Truckers im Fenster, ließ mich zusammenfahren. Er öffnete die Tür.
    »Kommst du nun oder was?«
    »Komm ja schon«, sagte ich.
    Das Führerhaus war nicht gerade sauber. Der Mann war schon einige Zeit unterwegs gewesen, und überall lagen Essensbehälter und Flaschen.
    »Du hast die Aufgabe, mich wach zu halten«, sagte der Trucker.
    Als ich nicht gleich antwortete, sah er zu mir her. Er hatte rote Augen. Rot waren auch der Fu-Manchu-Schnauzer und die langen Koteletten. »Red einfach drauflos«, sagte er.
    »Worüber denn?«
    »Woher soll ich das wissen!«, brüllte er aufgebracht. Aber genauso plötzlich: »Indianer! Weißt du was über Indianer?«
    »Indianer?«
    »Ja. Wenn ich Richtung Westen fahr, nehm ich immer welche mit. Das sind die verrücktesten Typen, die mir je untergekommen sind. Die haben alle möglichen Theorien und so Scheiß im Kopf.«
    »Was denn so?«
    »Also, manche von denen behaupten, dass sie gar nicht über die Bering-Landbrücke gekommen sind. Sagt dir die Bering- Landbrücke was? Das ist da in Alaska. Heißt heute Beringstraße. Ist jetzt Wasser. Kleiner Streifen Wasser zwischen Alaska und Russland. Vor langer Zeit war das aber Land, und da sind die Indianer rübergekommen. Aus China oder aus der Mongolei oder so. Indianer sind ja eigentlich Orientalen.«
    »Das hab ich nicht gewusst«, sagte ich. Ich hatte nun weniger Angst als vorher. Der Trucker hielt mich anscheinend für das, was ich nun war.
    »Aber manche von diesen Indianern, die ich mitnehm, die sagen, ihr Volk ist gar nicht über die Landbrücke gekommen. Die sagen, sie kommen von einer versunkenen Insel, Atlantis oder so.«
    »Die also auch.«
    »Weißt du, was die noch sagen?«
    »Was?«
    »Die sagen, die Indianer haben die Verfassung geschrieben. Die amerikanische Verfassung!«
    Wie sich zeigte, bestritt vor allem er die Unterhaltung. Ich sagte sehr wenig. Aber schon meine Anwesenheit genügte, um ihn wach zu halten. Von den Indianern kam er auf Meteoriten; in Montana gab es einen Meteor, den die Indianer als Gottheit verehrten, und bald erzählte er mir von den Himmelsschauspielen, die man als Trucker erlebte, den Sternschnuppen und Kometen und grünen Strahlen. »Hast du schon mal einen grünen Strahl gesehn?«, fragte er mich.
    »Nein.«
    »Es heißt, einen grünen Strahl kann man nicht fotografieren. Aber ich hab's gemacht. Ich hab immer eine Kamera dabei, falls mir so eine ausgeflippte Scheiße übern Weg läuft. Und einmal hab ich so einen grünen Strahl gesehn, ich hab mir die Kamera geschnappt und ihn draufgekriegt. Ich hab das Bild zu Hause.«
    »Was ist denn ein grüner Strahl?«
    »Das ist die Farbe, die die Sonne beim Auf- und Untergehen macht. Für zwei Sekunden. Am besten sieht man ihn in den Bergen.«
    Er nahm mich bis Ohio mit und setzte mich vor einem Motel ab. Ich dankte ihm fürs Mitnehmen und trug meinen Koffer zum Empfang. Dort erwies sich der Anzug als nützlich. Genau wie das teure Gepäck. Ich sah nicht aus wie ein Ausreißer. Der Mann vom Motel mochte Zweifel bezüglich meines Alters hegen, aber ich legte gleich Geld auf den Tresen, und schon lag der Schlüssel da.
    Auf Ohio folgten Indiana, Illinois, Iowa und Nebraska. Ich fuhr in Kombis, Sportwagen, Mietlastern. Allein fahrende Frauen hielten nie, nur Männer oder Männer mit Frauen. Ein niederländisches Touristenpaar nahm mich mit und beschwerte sich über die Kälte des amerikanischen Biers, und manchmal waren es auch Paare, die sich stritten und einander satt hatten. Und immer sahen die Leute in mir den halbwüchsigen Jungen, der ich, von Minute zu Minute überzeugender, war. Hier gab es keine Sophie Sassoon, um meinen Schnurrbart zu wachsen, also wurde er dichter, eine Schliere über der Oberlippe. Meine Stimme klang immer sonorer. Mit jedem Schlagloch sackte der Adamsapfel ein bisschen tiefer in meinem Hals.
    Wenn ich gefragt wurde, sagte ich, ich sei auf dem Weg ans College nach Kalifornien. Ich wusste nicht sehr viel von der Welt, aber von Colleges wusste ich etwas, wenigstens über Hausarbeiten, also behauptete ich, ich wolle nach Stanford, wo ich in einem Wohnheim wohnen könne. Ehrlich gesagt waren meine Fahrer nicht besonders

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