Middlesex
als richtig. Das Genitale so zu belassen, wie es heute ist, würde das Kind allen möglichen Formen der Demütigung aussetzen. Zwar besteht die Möglichkeit eines partiellen oder totalen Verlusts des erotischsexuellen Empfindens durch die Operation, doch ist sexuelle Lust nur ein Faktor eines glücklichen Lebens. Die Fähigkeit zu heiraten und in der Gesellschaft als normale Frau zu gelten sind ebenfalls wichtige Ziele, die aber beide ohne feminisierende Operation und Hormonbehandlung unerreichbar sind. Bleibt zu hoffen, dass neue Operationsmethoden die erotisch-sexuelle Dysfunktion infolge von Operationen, die zu einer Zeit, als die feminisierende Chirurgie noch in den Kinderschuhen steckte, durchgeführt wurden, auf ein Minimum beschränken werden.
Am Abend, als meine Mutter und ich ins Hotel zurückkehrten, hielt Milton eine Überraschung bereit. Karten für ein Broadway- Musical. Ich tat begeistert, aber nach dem Abendessen legte ich mich ins Bett meiner Eltern und sagte, ich sei zu müde, um mitzugehen.
»Zu müde?«, sagte Milton. »Was heißt das, du bist zu müde?«
»Ist schon in Ordnung, Liebling«, sagte Tessie. »Du musst nicht mitkommen.«
»Soll aber eine gute Aufführung sein, Cal.«
»Spielt Ethel Merman mit?«, fragte ich.
»Nein, mein kleiner Naseweis«, sagte Milton lächelnd. »Ethel Merman spielt nicht mit. Sie ist momentan gar nicht am Broad way. Wir sehen aber was mit Carol Channing. Die ist auch ziemlich gut. Komm doch mit, ja?«
»Nein danke«, sagte ich.
»Na schön. Dann verpasst du eben was.«
Sie wandten sich zum Gehen. »Tschüs, Liebes«, sagte meine Mutter.
Plötzlich sprang ich aus dem Bett und rannte zu Tessie, umklammerte sie.
»Was ist das denn jetzt?«, fragte sie.
Meine Augen standen voller Tränen. Tessie betrachtete sie als Tränen der Erleichterung nach all dem, was wir durchgemacht hatten. In dem schmalen Eingangsflur, der, schief und düster, von einer ehemaligen Suite abgetrennt war, standen wir beide aneinander geklammert da und weinten.
Als sie gegangen waren, holte ich meinen Koffer aus dem Schrank. Dann sah ich die türkisfarbenen Blumen und tauschte ihn gegen den Koffer meines Vaters, einen grauen Samsonite. Meine Röcke und meinen Fair-Isle-Pullover ließ ich in den Schubladen. Ich packte nur die dunkleren Sachen ein, einen blauen Pulli mit rundem Ausschnitt, die Alligator-Hemden und meine Kordhosen. Auch den Büstenhalter ließ ich liegen. Fürs Erste behielt ich meine Socken und Unterhosen, und meinen Kulturbeutel schmiss ich hinein, wie er war. Als ich fertig gepackt hatte, durchsuchte ich Miltons Kleiderbeutel nach Bargeld, das er dort versteckt hatte. Das Bündel war ziemlich dick und belief sich auf beinahe dreihundert Dollar.
Es war nicht allein Dr. Luces Schuld. Ich hatte ihn in vielem angelogen. Seine Diagnose basierte auf falschen Angaben. Aber auch er war unaufrichtig gewesen.
Auf einem Blatt Briefpapier hinterließ ich meinen Eltern eine Nachricht.
Liebe Mom, lieber Dad, ich weiß, ihr wollt nur mein Bestes, aber ich glaube nicht, dass jemand ganz genau weiß, was das Beste ist. Ich liebe euch und möchte kein Problem sein, deshalb habe ich mich entschieden fortzugehen. Ich weiß, ihr werdet sagen, ich bin kein Problem, aber ich weiß, dass ich eins bin. Wenn ihr wissen wollt, warum ich das mache, fragt Dr. Luce, der ein großer Lügner ist! Ich bin kein Mädchen. Ich bin ein Junge. Das habe ich heute herausgefunden. Deshalb gehe ich irgendwohin, wo mich keiner kennt. In Grosse Pointe werden alle über mich reden, wenn sie es mitbekommen.
Entschuldige, Dad, dass ich dein Geld genommen habe. Aber ich verspreche, eines Tages zahle ich es dir zurück, mit Zinsen.
Bitte macht euch um mich keine Sorgen, ich SCHAFF DAS SCHON!
Trotz des Inhalts unterschrieb ich diese Erklärung an meine Eltern mit »Callie« .
Es war das letzte Mal, dass ich ihre Tochter war.
AUF NACH WESTEN, JUNGER MANN
Wieder lebt ein Stephanides unter Türken. In Berlin. Hier in Schöneberg fühle ich mich wohl. Die türkischen Läden in der Hauptstraße sind wie die, in die mein Vater mich früher mitnahm. Das Essen ist das gleiche, die getrockneten Feigen, das Halva, die gefüllten Weinblätter. Auch die Gesichter sind die gleichen, gefurcht, dunkeläugig, starke Wangenknochen. Ungeachtet meiner Familiengeschichte fühle ich mich zur Türkei hingezogen. Ich würde gern in der Botschaft in Istanbul arbeiten. Ich habe schon einen Versetzungsantrag gestellt. Dann wäre der
Weitere Kostenlose Bücher