Middlesex
oder Kerouac las. Der Anzug von Durenmatt gab mir etwas von einem Beatnik.
Die Hose hatte einen Haifischglanz. Wegen meiner Größe ging ich als älter durch, als ich tatsächlich war, siebzehn, vielleicht achtzehn. Unter dem Anzug hatte ich einen Pullover mit rundem Ausschnitt, unter dem Pullover ein Alligator-Hemd, zwei Schutzschichten elterlichen Geldes auf der Haut, dazu die goldenen Wallabees an den Füßen.
Falls ich jemandem auffiel, dann hielt er mich für einen, der sich auftakelte, wie Teenager es eben tun.
Unter diesen Kleidern raste mein Herz noch immer. Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Auf einmal musste ich auf Dinge achten, auf die ich noch nie geachtet hatte. Auf Buspläne und Ticketpreise, darauf, mir das Geld einzuteilen, auf Geld. Ich musste eine Speisekarte nach dem absolut Billigsten absuchen, das mich satt machen würde, was an jenem Tag in Scranton ein Chili war. Ich aß einen Teller davon, rührte mehrere Päckchen Cracker hinein und studierte die Busrouten. Das Beste war, da es ja bald Winter werden würde, Richtung Süden oder Westen zu fahren, und da ich nicht in den Süden wollte, blieb nur der Westen. Kalifornien. Warum nicht? Ich erkundigte mich nach dem Fahrpreis. Wie befürchtet, war er zu hoch.
Den ganzen Vormittag hatte es immer wieder genieselt, aber nun brachen die Wolken auf. Gegenüber von dem trostlosen Esslokal, hinter den regenverschmierten Fenstern und jenseits der Zufahrtsstraße, die einen abfallenden, müllübersäten Grasstreifen begrenzte, verlief die Interstate. Ich sah auf den vorbeisausenden Verkehr, nun weniger hungrig, aber noch immer ängstlich und allein. Die Bedienung kam und fragte, ob ich einen Kaffee wolle. Obwohl ich noch nie Kaffee getrunken hatte, bejahte ich. Nachdem sie ihn mir eingegossen hatte, tat ich zwei Päckchen Milchpulver und vier Tütchen Zucker dazu. Als er ungefähr wie Mokkaeis schmeckte, trank ich ihn.
Ständig verließen Busse die Station, Abgaswolken hinter sich herziehend. Auf dem Highway rasten die Autos. Ich wollte duschen. Ich wollte mich in ein sauberes Bett legen und schlafen. Ich konnte ein Motelzimmer für $ 9,95 bekommen, aber bevor ich das tat, wollte ich weiter weg sein. Lange saß ich in der Nische. Ich hatte keine Ahnung, wie mein nächster Schritt aussehen würde. Schließlich kam mir eine Idee. Ich bezahlte und verließ den Busbahnhof. Ich überquerte die Zufahrtsstraße und lief den Hang hinab. Ich stellte meinen Koffer aufs Bankett, trat, den Blick dem entgegenkommenden Verkehr zugewandt, vor und hielt zögernd einen Daumen raus.
Meine Eltern hatten mich immer vor dem Trampen gewarnt. Manchmal hatte Milton mir Artikel in der Zeitung gezeigt, in denen in allen Einzelheiten das schauerliche Ende von Schülerinnen beschrieben wurde, die diesen Fehler begangen hatten. Mein Daumen war nicht sehr hoch in der Luft. Halb war ich gegen diese Idee. Autos jagten vorbei. Keines hielt. Mein zögernder Daumen zitterte.
Ich hatte Luce falsch eingeschätzt. Ich hatte geglaubt, dass er am Ende unserer Gespräche befinden würde, ich sei normal, und mich in Ruhe ließe. Doch ganz allmählich bekam ich einen Begriff von Normalität. Normalität war nicht normal. Das ging gar nicht. Wenn Normalität normal wäre, dann könnte jeder damit leben. Jeder könnte sich zurücklehnen und darauf warten, dass Normalität sich manifestiert. Doch die Menschen und vor allem die Ärzte - hatten in Bezug auf Normalität ihre Zweifel. Sie waren sich nicht sicher, ob die Normalität ihrer Aufgabe gewachsen war. Und daher halfen sie ihr ein wenig nach.
Meinen Eltern gab ich keine Schuld. Sie versuchten nur, mich vor Demütigungen zu bewahren, vor Lieblosigkeit, sogar vor dem Tod. Später erfuhr ich, dass Dr. Luce das medizinische Risiko hervorgehoben hatte, das darin lag, meinen Zustand unbehandelt zu lassen. Das »Gonadengewebe«, wie er meine nicht deszendierten Hoden bezeichnete, werde in späteren Jahren häufig karzinogen. (Ich bin jetzt einundvierzig, und noch ist nichts passiert.)
Ein Sattelschlepper bog um die Kurve, schwarzer Qualm drang aus dem aufrecht stehenden Auspuff. Im Fenster des roten Führerhauses hüpfte der Kopf des Fahrers wie der Kopf einer Puppe auf einer Feder. Sein Gesicht wandte sich mir zu, und in dem Moment, als der gewaltige Laster vorbeidonnerte, trat er auf die Bremse. Die Hinterräder rauchten ein wenig, quietschten, und zwanzig Meter weiter kam der Laster zum Stehen.
Zutiefst aufgewühlt packte ich meinen
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