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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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nicht weniger als drei übergewichtige Mütter, beladen mit Kindern und Bettzeug, sowie ein kleiner Mann, der sich als Pferdejockey erwies, mit Raucherrunzeln und braunen Zähnen. Während sie sich alle vor dem Bus aufstellten, um einzusteigen, verselbständigte sich die Szene in meinem Kopf und verweigerte meine Regieanweisungen. Milton schüttelte nun den Kopf, Dr. Luce band sich zum Operieren einen Mundschutz um, und meine Schulkameradinnen in Grosse Pointe zeigten auf mich und lachten, die Gesichter leuchtend vor Schadenfreude.
    Aus lauter Furcht wie in Trance, gelähmt und dennoch zitternd, stieg ich in den dunklen Bus. Zur Vorsicht setzte ich mich auf den Platz neben der Dame mittleren Alters. Die anderen Fahrgäste, an diese Nachtfahrten gewöhnt, zogen schon Thermosflaschen hervor und wickelten Sandwiches aus. Von den hinteren Sitzen wehte der Geruch von Brathähnchen zu mir. Plötzlich hatte ich großen Hunger. Ich wünschte, ich wäre wieder im Hotel und könnte den Zimmerservice anrufen. Bald musste ich mir etwas Neues zum Anziehen kaufen. Ich musste älter und weniger nach Freiwild aussehen. Ich musste mich allmählich wie ein Junge kleiden. Der Bus verließ Port Authority, und entsetzt über das, was ich da tat, aber außerstande, mich aufzuhalten, beobachtete ich, wie wir durch den langen, gelb erleuchteten, schemenhaften Tunnel, der nach New Jersey führte, die Stadt verließen. Unterirdisch, durch den Fels, über uns der dreckige Flußboden, und in dem schwarzen Wasser zu beiden Seiten der gekrümmten Kachelwände schwammen Fische.
    In einer Verkaufsstelle der Heilsarmee in Scranton, nicht weit vom Busbahnhof, machte ich mich auf die Suche nach einem Anzug. Ich gab vor, für meinen Bruder einzukaufen, allerdings stellte niemand Fragen. Herrengrößen waren mir ein Rätsel. Diskret hielt ich die Jacken an mich, um herauszufinden, welche mir wohl passte. Schließlich fand ich einen Anzug, der ungefähr meine Größe hatte. Er wirkte robust und für jedes Wetter geeignet. Innen auf dem Etikett stand »Durenmatt's Herrenausstatter, Pittsburgh«. Ich zog meinen Papagallo aus. Ich schaute mich um, ob mir jemand zusah, und probierte dann die Jacke an. Ich empfand nicht, was ein Junge empfinden würde. Es war nicht so, dass man die Jacke seines Vaters überwarf und zum Mann wurde. Es war, als würde einem der Freund, mit dem man aus war, seine Jacke geben, da man fror.
    Wie sie so auf meinen Schultern lag, fühlte sich die Jacke groß an, warm, Trost spendend, fremd. (Und wer war in meinem Fall der Freund? Der Football-Kapitän? Nein. Mein Kerl war der Veteran aus dem Zweiten Weltkrieg, den eine Herzkrankheit dahingerafft hatte. Mein Typ war das Lions-Club-Mitglied, das nach Texas gezogen war.)
    Der Anzug war nur ein Teil meiner neuen Identität. Das Wesentliche war der Haarschnitt. Jetzt, im Friseurladen, fiel Ed mit der Kleiderbürste über mich her. Die Borsten wirbelten einen Puder in die Luft, und ich schloss die Augen. Ich merkte, wie ich erneut herumgedreht wurde und der Friseur sagte: »Na dann, das war's.«
    Ich schlug die Augen auf. Und sah nicht mich im Spiegel. Nicht mehr die Mona Lisa mit dem rätselhaften Lächeln. Nicht das schüchterne Mädchen mit den schwarzen Haarsträhnen im Gesicht, sondern ihren Zwillingsbruder. Kaum war die Haarwand entfernt, traten die jüngsten Veränderungen meines Gesichts viel deutlicher zutage. Meine Kinnpartie wirkte eckiger, breiter, mein Hals dicker, mittendrin die Wölbung des Adamsapfels. Keine Frage, es war ein männliches Gesicht, doch die Gefühle dieses Jungen waren nach wie vor die eines Mädchens. Sich nach einer Trennung die Haare abzuschneiden war eine weibliche Reaktion. Es war Ausdruck des Neubeginns, des Verzichts auf Eitelkeit, ein Schlag gegen die Liebe. Ich wusste, dass ich das Objekt nie wieder sehen würde. Trotz weitaus größerer Probleme, umfassenderer Sorgen brach es mir fast das Herz, als ich mein männliches Gesicht das erste Mal im Spiegel sah. Ich dachte: Jetzt ist es vorbei. Indem ich mir die Haare schneiden ließ, bestrafte ich mich dafür, jemanden so sehr zu lieben. Ich versuchte eben, stark zu sein.
    Als ich dann aus Eds Friseurladen trat, war ich wie neu erschaffen. Die anderen Leute, die durch den Busbahnhof kamen, hielten mich, soweit sie mich überhaupt wahrnahmen, für einen Schüler eines nahe gelegenen Internats. Den Schüler einer Privatschule, einen mit Künstlerhabitus, der einen Altmänneranzug trug und zweifellos Camus

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