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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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misstrauisch. Es war ihnen im Grunde herzlich egal. Sie hatten ihre eigenen Sorgen. Sie waren gelangweilt oder einsam und brauchten jemanden zum Reden.
    Als wäre ich zu einer neuen Religion konvertiert, neigte ich anfangs zu Übertreibungen. Irgendwo in der Nähe von Gay, Indiana, ging ich plötzlich breitbeinig. Ich lächelte selten. Durch ganz Illinois hindurch setzte ich den argwöhnischen, harten Blick Clint Eastwoods auf. Es war alles Bluff, aber genauso war es ja bei den meisten Männern. Wir liefen doch alle mit diesem argwöhnischen Blick herum. Mein breitbeiniger Gang unterschied sich nicht sonderlich von dem etlicher anderer Jugendlicher, die männlich wirken wollen. Gerade deshalb war er überzeugend. Gerade seine Aufgesetztheit machte ihn echt. Hin und wieder hatte ich einen Rückfall. Wenn ich glaubte, etwas habe sich an der Schuhsohle festgesetzt, hob ich die Ferse und schaute, um nachzusehen, über die Schulter, statt das Bein vor mir anzuwinkeln und die Schuhsohle nach oben zu drehen. Ich nahm Kleingeld von meiner Handfläche statt aus der Hosentasche. Bei solchen Ausrutschern überkam mich Panik, was aber völlig unnötig war. Keinem fiel es auf. Dabei half mir, dass den Leuten ohnehin nur wenig auffällt.
    Es wäre gelogen, würde ich Ihnen erzählen, dass ich alle meine Empfindungen auch verstand. Mit vierzehn ist das nicht so. Ein Selbsterhaltungstrieb hieß mich weglaufen, also lief ich weg. Furcht verfolgte mich. Ich vermisste meine Eltern. Es flößte mir Schuldgefühle ein, dass ich ihnen Sorgen bereitete. Dr. Luces Bericht ging mir nicht aus dem Sinn. Jede Nacht weinte ich mich in einem anderen Motel in den Schlaf. Wegzulaufen nahm mir nicht das Gefühl, ein Monstrum zu sein. Ich sah nur Demütigung und Ablehnung voraus, und ich weinte um mein Leben.
    Aber wenn ich morgens aufwachte, ging es mir besser. Ich trat aus meinem Motelzimmer und stellte mich in die Luft der Welt. Ich war jung und trotz meiner Furcht voller Lebenskraft; über längere Zeit alles schwarz zu sehen war mir unmöglich. Irgendwie schaffte ich es, mich über weite Strecken zu vergessen. Ich aß zum Frühstück Doughnuts. Ich trank unablässig übersüßen, milchigen Kaffee. Um meine Stimmung zu heben, machte ich Dinge, die mir meine Eltern nie erlaubt hätten, bestellte zwei, manchmal sogar drei Nachtische und aß nie Salat. Ich hatte auf einmal die Freiheit, meine Zähne vergammeln zu lassen oder die Füße hinten auf Stühle zu stellen. Unterwegs sah ich manchmal andere Ausreißer. Sie versammelten sich unter Überführungen oder in Abwassergräben, rauchten Zigaretten, die Kapuzen ihrer Sweatshirts auf dem Kopf. Sie waren Härteres gewohnt, abgerissener. Ich hielt mich von ihren Rotten fern. Sie stammten aus kaputten Familien, waren misshandelt worden und misshandelten nun andere. Ich war anders als sie. Ich hatte die Aufsteigermentalität meiner Familie mit auf die Straße genommen. Ich schloss mich keiner Rotte an, sondern ging meinen Weg allein.
    Und da, mitten in der Prärie, kreuzt das Wohnmobil auf, das Myron und Sylvia Bresnick aus Pelham, New York, gehört. Wie ein neuzeitlicher Planwagen kommt es durch das wogende Grasland dahergerollt und hält an. Eine Tür geht auf gleich einer Haustür, und in ihr steht eine muntere Endsechzigerin.
    »Ich glaube, wir haben Platz für dich«, sagt sie.
    Eben noch an der Route 80 im westlichen Iowa, bin ich von einem Moment auf den nächsten, als ich meinen Koffer auf dieses Prärieschiff wuchte, im Wohnzimmer der Bresnicks. Gerahmte Fotos ihrer Kinder hängen an den Wänden, daneben Drucke von Chagall. Die Biographie Winston Churchills, durch die Myron sich abends auf den Stellplätzen arbeitet, liegt auf dem Couchtisch.
    Myron ist pensionierter Vertreter für Autoteile, Sylvia ehemalige Sozialarbeiterin. Im Profil ähnelt sie einem niedlichen Punchinello, die Wangen ausdrucksstark, gepudert, die Nase ein wenig lächerlich gedeih. Myron knautscht die Lippen um eine Zigarre, von seinen Säften ist sie schmierig und intim.
    Während Myron fährt, zeigt Sylvia mir die Betten, die Dusche, den Wohnbereich. An welche Uni gehe ich? Was möchte ich einmal werden? Sie bombardiert mich mit Fragen.
    Myron dreht sich am Steuer um und dröhnt: »Stanford! Gute Uni!«
    Und genau da passiert's. Irgendwo auf der Route 80 macht es klick bei mir im Kopf, und plötzlich merke ich, dass ich den Dreh heraushabe. Myron und Sylvia behandeln mich wie einen Sohn. In diesem Rundumgeschummel werde

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