Middlesex
ich es auch, wenigstens eine kleine Weile. Ich werde als männlich identifiziert.
Aber etwas Töchterliches muss mir wohl auch anhaften. Denn schon bald hat Sylvia mich auf die Seite genommen, um über ihren Mann zu klagen. »Ich weiß ja, es ist geschmacklos. Diese ganze Wohnmobil-Geschichte. Du solltest nur mal die Leute sehen, die wir in diesen Camps treffen. Sie nennen es den ›WoMo-Lifestyle‹. Ach, sie sind ganz nett, aber langweilig. Kulturveranstaltungen, die vermisse ich. Myron sagt, er hat sein ganzes Leben damit verbracht, durchs Land zu reisen, und konnte es vor lauter Arbeit gar nicht sehen. Und deshalb bereist er es noch einmal gemütlich. Und rate mal, wer da mitge schleppt wird?«
»Herzblatt?«, ruft Myron nach ihr. »Könntest du deinem Manne bitte einen Eistee bringen? Bin schon ganz ausge trocknet.«
Sie setzten mich in Nebraska ab. Ich zählte mein Geld; es waren noch zweihundertdreißig Dollar. Ich nahm mir ein billiges Zimmer in einer Art Pension und verbrachte dort die Nacht. Mir war es immer noch zu unheimlich, im Dunkeln zu trampen.
Hier und da war auch Zeit für kleinere Korrekturen. Viele der Socken, die ich mitgenommen hatte, hatten die falsche Farbe pink, weiß oder mit Walen bestickt. Auch meine Unterhosen waren nicht die richtigen. Bei Woolworth's in Nebraska City kaufte ich einen Dreierpack Boxershorts. Als Mädchen hatte ich L getragen. Als Junge brauchte ich M. Auch durch die Drogerieabteilung bummelte ich. Statt Gänge über Gänge Schönheitspflegemittel gab es für Männer nur ein Regal. Die Explosion in der Herrenkosmetik stand noch aus. Es gab noch keine hinter kernigen Namen getarnte Verwöhnsalben. Keine Heavy-Duty-Handcreme für strapazierte Haut. Kein Anti-Burn- Rasiergel. Ich holte mir ein Deodorant, Wegwerfrasierer und Rasiercreme. Die bunten Kölnischwasserflaschen zogen mich an, doch mit Aftershaves verband ich nicht gerade Angeneh mes. Bei Kölnischwasser musste ich an Stimmtrainer denken, an Oberkellner, an alte Männer und deren unerwünschte Umarmungen. Auch eine Herrengeldbörse suchte ich mir aus. An der Kasse konnte ich der Kassiererin nicht ins Gesicht schauen, ich war so verlegen, als würde ich Kondome kaufen. Die Kassiererin war nicht viel älter als ich, sie hatte blonde, fiedrige Fransen. Genau, der Herzland-Look.
In Restaurants ging ich nun auf die Herrentoilette. Das war wahrscheinlich die schwerste Anpassung. Ich war entsetzt von dem Dreck, den durchdringenden Gerüchen und Schweine geräuschen, dem Gegrunze und Gestöhne aus den Kabinen. Auf den Fußböden waren immerzu Urinlachen. An den Kloschüsseln klebten Fetzen benutztes Klopapier. Betrat man eine Kabine, wurde man zumeist von einem Installationsnotstand begrüßt, einer braunen Flut, einer Suppe mit toten Fröschen. Wenn man bedenkt, dass eine Toilettenkabine mir einmal Zuflucht gewährt hatte! Das war nun alles vorbei. Ich erkannte sogleich, dass mir das Herren-WC, anders als das der Damen, keinen Trost bieten konnte. Oft gab es nicht mal einen Spiegel oder Seife. Kannten die blähenden Männer in der Kabine keine Scham, so waren sie am Urinal nervös. Sie sahen stur geradeaus wie Pferde mit Scheu klappen.
In solchen Augenblicken wurde mir klar, was ich zurückgelassen hatte: die Solidarität einer gemeinsamen Biologie. Frauen wissen, was es heißt, einen Körper zu haben. Sie verstehen seine Schwierigkeiten und Schwächen, seine Schönheiten und Freuden. Männer glauben, ihr Körper gehöre ihnen allein. Sie pflegen ihn für sich, selbst in der Öffentlichkeit.
Ein Wort zum Penis. Was war Cals offizielle Haltung zum Pe nis? Unter ihnen, umgeben von ihnen waren seine Gefühle dieselben wie damals, als er noch ein Mädchen gewesen war: zu gleichen Teilen fasziniert und entsetzt. Penisse hatten mir nie besonders viel bedeutet. Meine Freundinnen und ich hatten eine zwiespältige Meinung von ihnen. Wir verbargen unser schuldhaftes Interesse, indem wir kicherten oder Abscheu heuchelten. Wie jedes andere Schulmädchen auf Exkursion hatte auch ich zwischen römischen Altertümern meine verschämten Momente gehabt. Hatte Blicke riskiert, wenn die Lehrerin einmal nicht hersah. Das ist doch unser erster Kunstunterricht, oder? Die Nackten sind bekleidet. Sie sind in hohe Gesinnung gekleidet. Mein Bruder war sechs Jahre älter als ich und hatte daher nie mit mir in der Badewanne gesessen. Im Lauf der Jahre hatte ich nur wenige Blicke auf seine Genitalien erhascht. Meist hatte ich beflissen
Weitere Kostenlose Bücher