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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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weggeschaut. Jerome war sogar in mich eingedrungen, ohne dass ich beobachtet hätte, was dabei vor sich ging. Etwas so lange Verborgenes musste mich einfach beschäftigen. Doch die Einblicke, die diese Herrentoiletten gewährten, waren alles in allem enttäuschend. Der stolze Phallus war nirgendwo zu sehen, nur der Futtersack, die trockene Knolle, die Schnecke, die ihr Haus verloren hat.
    Und ich stand Todesängste aus, beim Gucken ertappt zu werden. Trotz meines Anzugs, meines Haarschnitts und meiner Größe war da jedes Mal, wenn ich auf ein Herren-WC ging, in meinem Kopf ein Rufen: »Du bist bei den Männern!« Aber bei den Männern sollte ich doch sein. Keiner beschwerte sich. Keiner hatte etwas dagegen, dass ich kam. Und so suchte ich nach einer Kabine, die halbwegs sauber war. Ich musste mich zum Wasserlassen setzen. Das muss ich noch heute.
    Abends in den Motelzimmern machte ich auf pilzigen Teppichen Übungen, Liegestütze, Aufschwünge. Nackt bis auf meine neuen Boxershorts, betrachtete ich im Spiegel meinen Körper. Es war noch nicht lange her, dass ich über meine ausbleibende Entwicklung in Sorge war. Diese Sorge war ich nun los. Jener Norm brauchte ich nicht mehr zu entsprechen. Die unmöglich zu erfüllenden Forderungen waren vom Tisch, und ich empfand tiefe Erleichterung. Doch es gab auch Augenblicke des Unbehagens, wenn ich die Veränderungen meines Körpers wahrnahm. Manchmal empfand ich ihn nicht als meinen eigenen. Er war hart, weiß, knochig. Auf seine Weise schön, vermutete ich, aber spartanisch. Weder empfänglich noch geschmeidig. Eher Inhalt unter Druck. In diesen Motelzimmern lernte ich meinen neuen Körper kennen, seine besonderen Vorschriften, seine Gegenanzeigen. Das Objekt und ich waren im Dunkeln zugange gewesen. Sie hatte meine Gerätschaften nie so recht erforscht. Die Klinik hatte meine Genitalien zu etwas Behandlungswürdigem gemacht. Während der Zeit dort waren sie taub oder von den ständigen Untersuchungen ein wenig wund gewesen. Mein Körper hatte sich tot gestellt, um die Tortur zu überstehen. Doch das Reisen weckte ihn auf. Allein, hinter verschlossener Tür und vorgehängter Kette, experimentierte ich mit mir. Ich steckte mir Kissen zwischen die Beine. Ich legte mich auf sie. Mit halber Aufmerksamkeit, ich sah im Fernsehen Johnny Carson, forschte meine Hand. Die Beklemmungen, die ich wegen meiner Beschaffenheit immer gehabt hatte, hatten nicht zugelassen, dass ich mich genauso, wie es die meisten anderen Kinder taten, erkundete. Erst jetzt, als ich für die Welt und alle, die ich kannte, verloren war, hatte ich den Mut, es auszuprobieren. Ich kann die Bedeutung dessen gar nicht hoch genug einschätzen. Wenn ich Zweifel an meiner Entscheidung hatte, wenn ich manchmal daran dachte, mich auf dem Absatz umzudrehen, zu meinen Eltern und zur Klinik zurückzukehren und mich geschlagen zu geben, so war es diese private Ekstase zwischen meinen Beinen, die mich davon abhielt. Ich wusste, sie würde mir genommen werden. Ich möchte das Sexuelle nicht überbewerten. Aber für mich war es eine machtvolle Kraft, zumal mit vierzehn, als meine Nerven aufs Äußerste gespannt waren, bereit, bei der leisesten Berührung eine Sinfonie anzustimmen. Und so entdeckte Cal sich selbst, in lüsterner, flüssiger, steriler Kulmination, auf zwei, drei zerknautschten Kissen liegend, hinter herabgelassenen Rouleaus, draußen der winterfest gemachte Swimmingpool und die Autos, die endlos, die ganze Nacht hindurch, vorüberfuhren.
    Außerhalb von Nebraska City hielt ein silberner Nova mit Heckklappe. Ich rannte mit meinem Koffer hin und öffnete die Beifahrertür. Am Steuer saß ein gut aussehender Mann Anfang dreißig. Er trug einen Tweedmantel und einen gelben Pullover mit V-Ausschnitt. Der Kragen seines karierten Hemds war offen, doch die Ecken waren frisch gestärkt. Die Gediegenheit seiner Kleidung stand im Gegensatz zu seiner lässigen Art. »Hallo, Junge«, sagte er in einem Brooklyner Akzent.
    »Danke, dass Sie angehalten haben.«
    Er steckte sich eine Zigarette an, gab mir die Hand und stellte sich vor. »Ben Scheer.«
    »Ich heiße Cal.«
    Er stellte mir nicht die üblichen Fragen, woher ich kam, wohin ich wollte. Vielmehr fragte er mich, als wir losfuhren: »Wo hast du denn den Anzug her?«
    »Heilsarmee.«
    »Sieht gut aus.«
    »Ach ja?«, sagte ich. Und überdachte es sofort. »Sie nehmen mich auf den Arm.«
    »Nein, überhaupt nicht«, sagte Scheer. »Ich mag Anzüge, in denen jemand

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