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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Anzeigen. Die meisten waren Milton noch gar nicht aufgefallen. Es sah eher aus wie in einem Cockpit als in einem Auto, und Milton übernahm die Steuerung, Milton flog seinen letzten Cadillac über den Detroit River. Es spielte keine Rolle, was Augenzeugen sahen oder dass die Zeitungen am nächsten Tag berichteten, der Cadillac sei Teil einer zehn Autos umfassenden Massenkarambolage auf der Brücke gewesen. Zurückgelehnt in dem bequemen Lederschalensitz, konnte Milton Stephanides die Skyline des Zentrums nahen sehen. Im Radio spielte Musik, etwas Altes von Artie Shaw, warum nicht, und Milton beobachtete, wie das rote Licht auf dem Penobscot Building blinkte. Nach ein wenig Herumprobieren hatte er das fliegende Auto zu steuern gelernt. Das Lenkrad wurde nicht gedreht, sondern mit Willenskraft bewegt, wie in einem luziden Traum. Milton lenkte das Fahrzeug übers Festland. Er schwebte über die Cobo Hall. Er umkreiste das Top of the Pontch, in dem er mich einmal zum Mittagessen ausgeführt hatte. Aus irgendeinem Grund hatte Milton keine Höhenangst mehr. Er vermutete, dass das mit seinem bevorstehenden Tod zu tun hatte; es gab nichts mehr zu fürchten. Ohne zu schwitzen und schwindelfrei blickte er auf den Grand Circus Park hinab, bis er erspähte, was von den Rädern Detroits geblieben war; danach kurvte er zur West Side, um nach dem alten Zebra Room zu sehen. Auf der Brücke aber war der Kopf meines Vaters am Lenkrad zerschmettert worden. Der Polizist, der meine Mutter später von dem Unfall unterrichtete, sagte auf die Frage nach dem Zustand von Mil tons Körper nur: »Er entspricht dem Aufprall eines Fahrzeugs bei gut einhundertzehn Stundenkilometern.« Milton hatte keine Gehirnströme mehr, also war es verständlich, dass er, schwebend in dem Cadillac, wohl vergessen hatte, dass der Zebra Room schon vor langer Zeit niedergebrannt war. Es war ihm ein Rätsel, dass er ihn nicht finden konnte. Von dem früheren Viertel war nur brachliegendes Gelände übrig geblieben. Es schien ihm, als er hinabblickte, als sei der größte Teil der Stadt verschwunden. Leere Flächen folgten auf leere Flächen. Aber auch damit hatte Milton Unrecht. An manchen Stellen spross Getreide, und auch das Gras kam wieder. Es sah aus wie Weideland. »Da könnte man es auch gleich den Indianern zurückgeben«, dachte Milton. »Vielleicht würden es ja die Potawatomis wollen. Die könnten da ein Kasino hinstellen.« Der Himmel hatte sich in Zuckerwatte verwandelt, und die Stadt war wieder zu einer Ebene geworden. Aber nun blinkte ein weiteres rotes Licht. Nicht auf dem Penobscot Building; im Wagen. Es war eine der Leuchtanzeigen, die Milton noch nie gesehen hatte. Er wusste, was sie bedeutete.
    Und da fing Milton an zu weinen. Auf einmal war sein Gesicht nass, und schniefend und schluchzend berührte er es. Er sackte nach hinten, und weil niemand da war, der es sehen konnte, öffnete er den Mund, um seinem überwältigenden Kummer Luft zu machen. Seit er ein Junge gewesen war, hatte er nicht mehr geweint. Der Klang seiner tiefen Stimme überraschte ihn. Es war der Klang eines verwundeten oder sterbenden Bären. Milton brüllte in dem Cadillac, der nun wieder abwärts sank. Er weinte nicht, weil er gleich sterben würde, sondern weil ich, Calliope, noch immer fort war, weil er es nicht geschafft hatte, mich zu retten, weil er alles getan hatte, was er konnte, um mich zurückzuholen, und ich noch immer nicht zurück war.
    Als der Wagen die Schnauze senkte, kam der Fluss erneut in den Blick. Milton Stephanides, ein alter Navy-Veteran, machte sich bereit. Zuallerletzt dachte er nicht mehr an mich. Ich muss ehrlich sein und Miltons Gedanken aufzeichnen, wie sie ihm kamen. Kurz vor seinem Ende dachte er weder an mich noch an Tessie, noch an einen anderen von uns. Dazu war keine Zeit. Während der Wagen hinabstürzte, hatte Milton nur die Zeit, erstaunt darüber zu sein, wie sich alles entwickelt hatte. Sein ganzes Leben lang hatte er jedem Vorträge gehalten, wie man sich richtig verhielt, und nun hatte er das hier getan, das Dümmste überhaupt. Er konnte es kaum fassen, dass er es dermaßen verbockt hatte. Sein letztes Wort, leise gesprochen, war daher ohne Zorn oder Furcht, nur voller Verwirrung und mit einem gewissen Maß an Tapferkeit. »Spatzenhirn«, sagte Milton zu sich, in seinem letzten Cadillac. Und dann holte ihn das Wasser.
    Ein echter Grieche würde vielleicht mit diesem tragischen Mollton enden. Ein Amerikaner dagegen hält gern an

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