Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
Vom Netzwerk:
seinem Optimismus fest. Wenn wir heute über Milton sprechen, kommen meine Mutter und ich zu dem Schluss, dass er gerade noch rechtzeitig abgetreten ist. Er trat ab, bevor Pleitegeier das Familienunternehmen übernahm und es in weniger als fünf Jahren gegen die Wand fuhr. Bevor Pleitegeier, Desdemonas Geschlechtsprognosen aufgreifend, einen winzigen Silberlöffel um den Hals trug. Er trat ab, bevor die Bankkonten leer geräumt und die Kreditkarten überzogen waren. Bevor Tessie die Middlesex verkaufen und mit Tante Zo nach Florida ziehen musste. Und er trat ab, bevor Cadillac drei Monate später, im April 1975, den Seville einführte, ein Benzin sparendes Modell, das aussah, als wäre ihm die Hose abhanden gekommen, und seitdem waren Cadillacs nicht mehr dasselbe. Milton trat ab vor vielem, das ich in dieser Geschichte nicht erwähnen möchte, weil es die gewöhnlichen Tragödien des amerikanischen Lebens sind und als solche nicht in diese Aufzeichnung von etwas Einzigartigem, Ungewöhnlichem passen. Er trat ab, bevor der Kalte Krieg zu Ende ging, vor Raketenschilden und der Erderwärmung und dem 11. September und einem zweiten Präsidenten mit nur einem Vokal im Namen.
    Das Wichtigste aber war, Milton trat ab, ohne mich noch einmal wiedergesehen zu haben. Ein Wiedersehen wäre nicht einfach gewesen. Trotzdem glaube ich, dass die Liebe meines Vaters zu mir stark genug war und er mich hätte akzeptieren können. Aber in mancher Hinsicht ist es besser, dass wir, er und ich, es nicht ausprobieren mussten. Aus Respekt vor meinem Vater werde ich immer ein Mädchen bleiben. Darin liegt eine Art Reinheit, die Reinheit der Kinderjahre.

DIE LETZTE STATION
    »Irgendwie trifft es noch immer zu«, sagte Julie Kikuchi.
    »O nein«, sagte ich.
    »Das ist doch eins wie das andere.«
    »Was ich dir erzählt habe, hat nicht das Geringste mit Schwulsein zu tun, weder mit offenem noch mit heimlichem. Ich habe schon immer Mädchen gemocht. Sogar als ich selbst eins war.«
    »Dann wäre ich also keine letzte Station für dich?«
    »Eher eine erste.«
    Julie lachte. Sie hatte sich noch immer nicht entschieden. Ich wartete. Dann sagte sie endlich: »Also gut.«
    »Gut?«, fragte ich. Sie nickte.
    »Also gut«, sagte ich.
    So verließen wir das Museum und gingen zu mir. Wir tranken noch etwas; wir tanzten langsam im Wohnzimmer. Und dann führte ich Julie ins Schlafzimmer, in das ich seit einer ganzen Weile niemanden mehr geführt hatte.
    Sie schaltete das Licht aus.
    »Moment«, sagte ich. »Machst du das deinet- oder meinetwegen?«
    »Meinetwegen.«
    »Warum?«
    »Weil ich eine schüchterne, zurückhaltende Asiatin bin. Nur erwarte nicht, dass ich dich bade.«
    »Kein Bad?«
    »Erst wenn du wie Alexis Zorbas tanzt.«
    »Wo habe ich nur meine Bouzouki?« Ich versuchte, den Flachs weiterzuspinnen. Dabei zog ich mich aus. Dasselbe tat Julie. Es war ein Sprung ins kalte Wasser. Man musste es tun, ohne zu viel nachzudenken. Wir schlüpften unter die Decke und hielten uns aneinander fest, erstarrt, glücklich.
    »Vielleicht bin ich ja auch deine letzte Station«, sagte ich, sie umklammernd. »Hast du dir das schon mal überlegt?«
    Und Julie Kikuchi antwortete: »Ist mir schon in den Sinn gekommen.«
    PLEITEGEIER FLOG nach San Francisco, um mich aus der Zelle abzuholen. Meine Mutter hatte eine Erklärung unter schreiben müssen, in der sie die Polizei darum bat, mich in die Obhut meines Bruder zu übergeben. In naher Zukunft sollte es zu einer Verhandlung kommen, aber als Jugendlicher und Ersttäter konnte ich damit rechnen, dass ich nur auf Bewährung verurteilt würde. (Das Vergehen führte zu keiner Vorstrafe, sodass es meinen späteren Berufsaussichten beim Außen ministerium nicht in die Quere kam. Nicht dass ich mich damals mit diesen Details beschäftigt hätte. Ich war wie gelähmt, krank von Kummergiften und wollte nach Hause.)
    Als ich in den Vorraum der Polizeiwache trat, saß mein Bruder allein auf einer langen Holzbank. Er schaute ausdruckslos, blinzelnd zu mir auf. So war Pleitegeier eben. Alles lief bei ihm im Innern ab. In seiner Hirnschale wurden Empfindungen überprüft, bewertet, bevor er reagierte. Sicher, ich kannte das an ihm. Was ist natürlicher als die Ticks und Angewohnheiten der nächsten Verwandten? Jahre zuvor hatte ich vor Pleitegeier die Unterhose herunterziehen müssen, damit er mich betrachten konnte. Jetzt war sein Blick aufwärts gerichtet, aber nicht weniger gebannt. Er sah meinen entwaldeten Kopf. Er

Weitere Kostenlose Bücher