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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Lefty stülpte die Lippen vor und stieß Luft aus, wie er es bei Franzosen gesehen hatte. »Sehen Sie nur, was ich anhabe. Alle guten Anzüge sind hin.«
    Der Beamte lächelte trocken und stempelte die Papiere.
    »Weitergehen.«
    »Meine Frau ist auch noch da.«
    »Vermutlich ist sie auch in Paris geboren.«
    »Natürlich.«
    »Ihr Name?«
    »Desdemona.«
    »Desdemona Stephanides?«
    »Genau. Wie meiner.«
    Als er mit den Visa zurückkam, war Desdemona nicht allein. Neben ihr auf dem Koffer saß ein Mann. »Er wollte sich ins Wasser stürzen. Ich habe ihn gerade noch zurückgehalten.« Benommen, blutig, einen leuchtenden Verband an einer Hand, wiederholte der Mann unablässig: »Sie konnten nicht lesen. Es waren Analphabeten!« Lefty sah nach, wo der Mann blutete, konnte aber keine Wunde finden. Er wickelte den Verband des Mannes ab, ein silbernes Band, und warf ihn weg. »Sie konnten meinen Brief nicht lesen«, sagte der Mann, und als sich ihre Blicke trafen, erkannte Lefty ihn.
    »Sie schon wieder?«, sagte der französische Beamte.
    »Mein Vetter«, sagte Lefty in miserablem Französisch. Der Mann stempelte ein Visum und gab es ihm.
    Eine Motorbarkasse brachte sie zum Schiff. Lefty hielt Dr. Phi lobosian fest, der noch immer drohte, sich zu ertränken. Desdemona öffnete ihre Seidenraupenkiste und schlug das weiße Tuch auf, um nach den Eiern zu sehen. In dem grausigen Wasser trieben Leiber vorbei. Einige lebten, riefen. Ein Suchscheinwerfer er-fasste einen Jungen, der die Ankerkette eines Schlachtschiffs halb hochgeklettert war. Seeleute kippten Öl auf ihn, woraufhin er zurück ins Wasser rutschte.
    Auf dem Deck der Jean Bart schauten die drei französischen Neubürger auf die brennende Stadt, vom einen Ende zum anderen ein Flammenmeer. Das Feuer sollte drei weitere Tage brennen, ganze achtzig Kilometer weit zu sehen sein. Auf See sollten Seeleute den aufsteigenden Qualm für eine gigantische Gebirgskette halten. In dem Land, in das sie strebten, Amerika, schaffte das brennende Smyrna es ein, zwei Tage auf die Titelseiten, bis es vom Mordfall Hall-Mills (die Leiche Halls, eines protestantischen Geistlichen, war zusammen mit der von Miss Mills, einer attraktiven Chorsängerin, entdeckt worden) und dem Auftakt der Baseballsaison verdrängt wurde. Admiral Mark Bristol von der US-Marine, in Sorge um die amerikanisch türkischen Beziehungen, schickte per Telegramm eine Presseerklärung, in der er sagte: »Es ist unmöglich, die Anzahl der Toten durch Mord, Feuer und Hinrichtung zu schätzen, aber die Gesamtzahl dürfte 2000 nicht überschreiten.« Der amerikanische Konsul George Horton schätzte eine höhere Zahl. Von den 400000 osmanischen Christen in Smyrna vor dem Brand war das Schicksal von 190000 am 1. Oktober ungeklärt. Horton halbierte diese Zahl und schätzte die Toten auf 100000.
    Die Anker stiegen aus dem Wasser. Der Boden des Decks erbebte, als die Maschinen den Zerstörer rückwärts zogen. Desdemona und Lefty sahen die kleinasiatische Küste zurückweichen.
    Als sie an der Iran Duke vorbeifuhren, stimmte die britische Militärkapelle einen Walzer an.

DIE SEIDENSTRASSE
    Einer alten chinesischen Legende zufolge saß Prinzessin Si Ling-chi an einem Tag im Jahre 2640 v. Chr. unter einem Maulbeerbaum, als der Kokon einer Seidenraupe in ihre Teetasse fiel. Als sie ihn herausholen wollte, merkte sie, dass der Kokon in der heißen Flüssigkeit schon angefangen hatte, sich zu lösen. Sie gab das Ende ihrer Dienerin und schickte sie los. Die Dienerin ging aus der Kammer der Prinzessin, auf den Palasthof, durch die Palasttore, hinaus aus der Verbotenen Stadt und einen Kilometer ins Land, bis der Kokon schließlich abgewickelt war. (Im Westen sollte diese Legende über drei Jahrtausende hinweg allmählich mutieren, bis sie zu der Geschichte von dem Physiker mit dem Apfel wurde. Beide Male ist die Bedeutung dieselbe: Große Entdeckungen, seien sie Seide oder die Schwerkraft, sind stets unverhoffte Glücksfälle. Sie widerfahren Leuten, die unter einem Baum faulenzen.)
    Ich komme mir ein wenig vor wie jene chinesische Prinzessin, deren Entdeckung Desdemona ihr Auskommen bescherte. Wie sie spule ich meine Geschichte ab, und je länger der Faden, desto weniger bleibt zu erzählen. Verfolgt man den Faden zurück, gelangt man an den Anfang des Kokons, zu einem winzigen Knoten, einer ersten vorsichtigen Schlinge. Und indem ich den Faden meiner Geschichte dahin zurückverfolge, wo ich sie unterbrochen habe, sehe ich die

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