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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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näher. Das Dach des amerikanischen Konsulats begann zu brennen. Flammen klommen das Kino hinauf, versengten das Vordach. Die Menge wich vor der Hitze zurück. Lefty aber, der seine Chance witterte, ließ sich nicht beirren.
    »Das weiß doch keiner«, sagte er. »Wer soll das denn wissen? Es gibt doch nur noch uns.«
    »Es ist aber nicht recht.«
    Dächer brachen ein, Menschen kreischten, als Lefty seiner Schwester den Mund aufs Ohr legte. »Du hast versprochen, mir ein nettes griechisches Mädchen zu beschaffen. Also. Du bist es.«
    An der einen Seite sprang ein Mann ins Wasser, wollte sich ertränken; auf der anderen bekam eine Frau ein Kind, ihr Mann stellte sich mit seinem Mantel vor sie. »Kegomaste! Kegomaste!«, schrien Leute. »Wir brennen! Wir brennen!« Desdemona zeigte auf das Feuer, auf alles. »Zu spät, Lefty. Ist jetzt eh egal.«
    »Aber wenn wir es überleben würden? Würdest du mich dann heiraten?«
    Ein Nicken. Weiter nichts. Und da war Lefty weg, lief auf die Flammen zu.
    Auf einem schwarzen Bildschirm streicht eine fernglasförmige Sichtschablone hin und her, erfasst die fernen Flüchtlinge. Sie schreien ohne Ton. Flehend strecken sie die Arme aus. »Die rösten die armen Teufel bei lebendigem Leib.« »Bitte um Erlaubnis, einen Schwimmenden zu bergen, Sir.« »Negativ, Phillips. Wenn wir einen an Bord nehmen, müssen wir sie alle nehmen.«
    »Es ist ein Mädchen, Sir.«
    »Wie alt?«
    »Scheint ungefähr zehn oder elf zu sein.«
    Major Arthur Maxwell senkt das Fernglas. Ein dreieckiger Muskelknoten spannt sich an seinem Kiefer und verschwindet.
    »Sehen Sie es sich an, Sir.«
    »Wir dürfen uns hier nicht von Emotionen leiten lassen, Phillips. Es geht um größere Dinge.«
    »Sehen Sie es sich an, Sir.«
    Major Maxwells Nasenflügel beben, als er Captain Phillips einen Blick zuwirft. Dann schlägt er sich mit einer Hand auf den Schenkel und begibt sich an den Rand des Schiffs.
    Der Suchscheinwerfer streicht übers Wasser, bestrahlt sein eigenes Sichtfeld. Das Wasser unter dem Strahl sieht eigenartig aus, eine farblose Brühe, übersät mit einer Vielfalt von Gegenständen: eine leuchtende Orange, ein Männerfilzhut mit einer Krempe aus Exkrementen, Papierfetzen wie zerrissene Briefe. Und dann, inmitten dieser trägen Masse, ist da sie, hält sich an der Schiffsleine fest, ein Mädchen in einem rosa Kleid, das im Wasser dunkelrot wirkt, die Haare kleben an dem kleinen Schädel. Ihre Augen appellieren nicht, starren nur herauf. Ihre spitzen Füße treten immer wieder, wie Flossen.
    Gewehrfeuer vom Ufer schlägt im Wasser unweit von ihr ein. Sie achtet nicht darauf.
    »Scheinwerfer aus.«
    Das Licht geht aus, das Feuer hört auf. Major Maxwell blickt auf seine Uhr. »Es ist jetzt 21.15 Uhr. Ich gehe in meine Kabine, Phillips. Dort bleibe ich bis 7.00 Uhr. Sollte während dieser Zeit ein Flüchtling an Bord genommen werden, würde das nicht zu meiner Kenntnis gelangen. Haben Sie verstanden?«
    »Verstanden, Sir.«
    Es kam Dr. Philobosian nicht in den Sinn, dass der verdrehte Leichnam, über den er auf der Straße stieg, der seines jüngeren Sohnes war. Ihm fiel nur auf, dass die Haustür offen stand. In der Diele blieb er stehen und horchte. Nur Stille. Langsam, die Arzttasche noch in der Hand, ging er die Treppe hinauf. Alle Lampen waren an. Das Wohnzimmer war hell erleuchtet. Toukhie saß auf dem Sofa, erwartete ihn. Ihr Kopf war wie im Übermut nach hinten gekippt, und am Hals öffnete sich die Wunde, ein Teil der Luftröhre schimmerte. Stepan saß zusammengesackt am Esstisch, die rechte Hand, die den Schutzbrief hielt, mit einem Steakmesser festgenagelt. Dr. Philobosian ging einen Schritt weiter und rutschte aus, bemerkte dann eine Blutspur, die den Flur entlangführte. Er folgte der Spur ins Elternschlafzimmer, wo er seine beiden Töchter fand. Sie waren beide nackt, lagen auf dem Rücken. Drei ihrer vier Brüste waren abgeschnitten. Roses Hand streckte sich zu ihrer Schwester hin, als wollte sie das Silberband auf der Stirn gerade rücken.
    Die Schlange war lang und bewegte sich schleppend voran. Lefty hatte Zeit, sein Vokabular durchzugehen. Er repetierte seine Grammatikkenntnisse, warf rasche Blicke in den Sprachführer. Er lernte »Lektion 1: Begrüßungen«, und als er vor dem Beamten am Tisch stand, war er bereit.
    »Name?«
    »Eleutherios Stephanides.«
    »Geburtsort?«
    »Paris.«
    Der Beamte blickte auf. »Ausweis.«
    »Alles ist vom Feuer vernichtet! Ich habe alle Papiere verloren!«

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