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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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denn los?« - »Es... es...« - sie suchte nach der vernichtendsten Begründung, »es ist unschön!« - »Letzte Woche hast du das aber nicht gefunden.« Milton fuchtelte mit der Klarinette, schob zwinkernd das Blatt zurecht, bis Tessie sagte: »Ich will das nicht mehr! Verstehst du? Lass mich in Ruhe!«
    Im weiteren Verlauf des Sommers kam Michael Antoniou jeden Samstag zur Pension O'Toole, um Tessie abzuholen. Während sie dahingingen, nahm er ihre Handtasche und schwenkte sie am Riemen, als wäre sie ein Weihrauchgefäß.
    »Man muss es genau richtig machen«, sagte er zu ihr.
    »Schwenkst du es nicht fest genug, schlackert die Kette, und die Glut fällt raus.« Meine Mutter versuchte, ihre Verlegenheit, dass man sie in der Öffentlichkeit mit einem Mann sah, der eine Handtasche schwang, einfach beiseite zu schieben. Am Erfrischungsstand im Drugstore beobachtete sie, wie er sich, bevor er sein Eis aß, eine Serviette in den Kragen steckte. Statt die Kirsche sich selbst in den Mund zu schieben, wie Milton es getan hätte, bot Michael Antoniou sie ihr immer an. Als sie später vor ihrer Haustür standen, drückte er ihr die Hand und sah ihr ehrlich in die Augen. »Das war wieder ein schöner Nachmittag. Danke. Bis morgen in der Kirche.« Dann schritt er, die Hände auf dem Rücken gefaltet, davon. Übte also auch, wie ein Priester zu schreiten.
    Sobald er weg war, ging Tessie hinein und gleich die Treppe hoch auf ihr Zimmer. Sie streckte sich auf der Bettcouch aus und las. Eines Nachmittags konnte sie sich nicht konzentrieren, hörte auf zu lesen und legte sich das Buch aufs Gesicht. Und genau in dem Moment begann draußen eine Klarinette zu spielen. Tessie hörte eine Weile reglos zu. Schließlich hob sich ihre Hand, um das Buch vom Gesicht zu nehmen. Doch so weit kam es gar nicht. Die Hand schwang in der Luft, als dirigiere sie, dann schlug sie, vernünftig, resigniert, verzweifelt, das Fenster zu.
    »Bravo!«, brüllte Desdemona ein paar Tage später ins Telefon. Dann, wobei sie sich die Sprechmuschel vor die Brust hielt: »Gerade hat Mikey Antoniou Tessie einen Antrag gemacht! Sie sind verlobt! Sie wollen heiraten, sobald Mikey das Seminar beendet hat.«
    »Guck nicht so böse« , sagte Zoe zu ihrem Bruder.
    »Halt die Klappe.«
    »Sei bloß nicht sauer auf mich«, sagte sie, blind gegenüber der Zukunft. »Ich heirate ihn doch nicht. Da müsstest du mich erst erschießen.«
    »Wenn sie einen Priester heiraten will«, sagte Milton, »dann soll sie doch. Zum Teufel mit ihr.« Er lief rot an, sprang vom Tisch auf und rannte nach oben.
    Aber warum tat meine Mutter das? Sie konnte es nie erklären. Die Gründe, warum man gerade den und nicht einen anderen heiratet, sind den Beteiligten nicht immer klar. Ich kann also nur spekulieren. Vielleicht versuchte meine Mutter, nachdem sie ohne Vater aufgewachsen war, einen zu heiraten. Möglich auch, dass ihre Entscheidung eine ganz pragmatische war. Einmal hatte sie Milton gefragt, was er mit seinem Leben anstellen wolle. »Ich hab gedacht, vielleicht übernehme ich ja Dads Bar.« Über all den anderen Gegensätzen mochte am Ende der gestanden haben: Barmann, Priester.
    Unvorstellbar, dass mein Vater aus Liebeskummer weinte. Unvorstellbar, dass er die Nahrung verweigerte. Unvorstellbar auch, dass er immer wieder in der Pension anrief, bis Mrs. O'Toole sagte: »Hören Sie, mein Süßer. Sie will nicht mit Ihnen sprechen. Klar?« - »Ja«, Milton schluckte schwer, »klar.« - »Es gibt im Meer noch jede Menge Fische.« All das unvorstellbar, aber genau das hat sich zugetragen.
    Vielleicht hatte Mrs. O'Tooles maritime Metapher ihn auf eine Idee gebracht. Eine Woche nach Tessies Verlobung, es war ein schwüler Dienstagvormittag, verstaute Milton seine Klarinette auf immer und ging zum Cadillac Square, um seine Pfadfinderuniform gegen eine andere einzutauschen.
    »So, ich hab's gemacht«, berichtete er seiner Familie beim Abendessen. »Ich hab mich freiwillig gemeldet.«
    »Bei die Army!«, sagte Desdemona entsetzt.
    »Wozu das denn?«, sagte Zoe. »Der Krieg ist fast vorbei. Hitler ist doch am Ende.«
    »Hitler, das weiß ich nicht. Ich muss mir Gedanken über Hiro hito machen. Ich bin zur Navy gegangen. Nicht zur Army.«
    »Und deine Füße?«, rief Desdemona.
    »Nach meinen Füßen haben sie nicht gefragt.«
    Mein Großvater, der die Klarinettenständchen über sich hatte ergehen lassen, wie er alles über sich ergehen ließ, sich ihrer Bedeutung bewusst, aber klug genug,

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