Middlesex
Pomfret, Connecticut. In den Sommerferien hatte er Tessie Zizmo große Aufmerksamkeit gewidmet. 1933 war die Himmelfahrtskirche aus ihren vier Wänden, dem Laden in der Hart Street, weggezogen. Die Gemeinde hatte nun eine richtige Kirche am Vernor Highway gleich bei der Beniteau Street. Die Kirche war aus gelbem Backstein. Sie trug drei taubengraue Kuppeln wie Mützen und hatte ein Untergeschoss für gesellige Anlässe. Während der Kaffeekränzchen erzählte Michael Antoniou Tessie, wie es am Heilig-Kreuz-Kolleg war, und klärte sie über die weniger bekannten Aspekte der griechischen Orthodoxie auf. Er erzählte ihr von den Mönchen auf dem Berg Athos, die in ihrem Streben nach Reinheit nicht nur Frauen von ihrer Klosterinsel fern hielten, sondern auch die Weibchen aller anderen Gattungen. Auf dem Berg Athos gab es keine Vogel und Schlangenweibchen, keine Katzen und keine Hündinnen.
»Für meinen Geschmack etwas zu streng« , sagte Michael Antoniou und lächelte Tessie bedeutungsvoll an. »Ich möchte einfach nur ein Gemeindepriester sein. Heiraten und Kinder haben.« Es überraschte meine Mutter nicht, dass er sich für sie interessierte. Da sie selbst klein war, war sie es gewöhnt, dass kleinwüchsige Jungen sie zum Tanz aufforderten. Sie wollte nicht wegen ihrer Körpergröße erwählt werden, doch Michael Antoniou blieb hartnäckig. Und vielleicht hatte er es ja auch gar nicht auf sie abgesehen, weil sie das einzige Mädchen war, das kleiner war als er. Vielleicht hatte ihn das Verlangen in Tessies Augen angesprochen, ihre verzweifelte Sehnsucht zu glauben, dass da etwas war und nicht das Nichts.
Desdemona ergriff die Gelegenheit beim Schopfe. »Mikey ist guter griechischer Junge, netter Junge«, sagte sie zu Tessie.
»Und er wird Priester!« Und zu Michael Antoniou: »Tessie ist klein, aber sie ist kräftig. Was glauben Sie, wie viele Teller sie kann tragen, Father Mike?« - »Ich bin noch nicht Father, Mrs. Stephanides.« -»Bitte, wie viele?« - »Sechs?« - »Mehr nicht? Sechs?« Und hielt zwei Hände hoch. »Zehn! Zehn Teller kann Tessie tragen. Macht nix kaputt.«
Sie begann, Michael Antoniou zum Sonntagsessen einzuladen. Die Gegenwart des Seminaristen machte Tessie, die nun nicht mehr zu privaten Swingsessions nach oben ging, unsicher. Milton, dem diese neue Entwicklung sauer aufstieß, schoss Spitzen über den Esstisch. »Es ist bestimmt viel schwieriger, hier in Amerika Priester zu sein.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Michael Antoniou.
»Ich meine einfach nur, dass die Menschen im alten Land nicht besonders gebildet sind«, sagte Milton. »Die glauben alles, was die Priester ihnen sagen. Hier ist es anders. Hier geht man aufs College und lernt, eigenständig zu denken.«
»Die Kirche hat nichts dagegen, dass die Menschen denken«, antwortete Michael, ohne beleidigt zu sein. »Die Kirche glaubt, dass das Denken die Menschen an Grenzen stoßen lässt. Wo das Denken endet, beginnt die Offenbarung.«
»Chrysostome!«, rief Desdemona aus. »Father Mike, Sie haben einen Goldmund.«
Aber Milton ließ nicht locker. »Ich würde sagen, wo das Denken endet, beginnt die Dummheit.«
»So leben die Menschen eben, Milt« - das war wieder Michael Antoniou, noch immer freundlich, sanft -, »indem sie Geschichten erzählen. Was sagt ein Kind als Erstes, wenn es sprechen lernt? ›Erzähl mir eine Geschichte.‹ So verstehen wir, wer wir sind, woher wir kommen. Geschichten sind alles. Und welche Geschichte hat die Kirche zu erzählen? Ganz einfach. Es ist die großartigste Geschichte, die jemals erzählt worden ist.«
Meiner Mutter, die dieser Debatte zuhörte, blieben die krassen Gegensätze zwischen ihren beiden Freiern nicht verborgen. Auf der einen Seite Glaube, auf der anderen Skepsis. Auf der einen Seite Freundlichkeit, auf der anderen Angriffslust. Ein zugegebenermaßen kleiner, aber sympathisch aussehender junger Mann gegen einen dürren, pickligen, jungenhaften Ersatzreservisten, der Ringe unter den Augen hatte wie ein hungriger Wolf. Michael Antoniou hatte nicht einmal versucht, Tessie zu küssen, wohingegen Milton sie mit einem Holzblasinstrument verführt hatte. Des- und As-Töne hatten an ihr wie Flammenzungen geleckt, da in der Kniekehle, hier oben am Hals, dicht unterm Nabel... die Aufzählung erfüllte sie mit Scham. Am Nachmittag trat Milton ihr in den Weg. »Ich hab ein neues Stück für dich, Tess. Hab's heute erst einstudiert.« Aber Tess sagte zu ihm: »Geh weg.« - »Warum? Was ist
Weitere Kostenlose Bücher