Midkemia Saga 06 - Des Königs Freibeuter
konnte er dem Drang widerstehen, sich an dem Stiefel vor seinem Gesicht festzuhalten.
Er suchte sich den bestmöglichen Halt und setzte die Hand unter Marcus’ rechten Fuß. »Jetzt, aber langsam!« rief er.
Marcus verlagerte das Gewicht auf die Hand seines Cousins.
Nicholas verzog vor Anstrengung das Gesicht. Seine Schultern brannten, da die Haut vom rauhen Stein durch das Hemd hindurch zerkratzt war. Seine Beine zitterten, doch er hielt durch.
Nicholas merkte, daß er flach und schnell atmete, und er zwang sich, tiefer Luft zu holen. Die Tränen rannen ihm wegen der Schmerzen in Rücken und Beinen über das Gesicht, aber er blieb so angespannt wie eine Bogensehne, denn jedes Nachlassen konnte ihn und Marcus das Leben kosten.
Dann ließ der Druck von oben nach, und Marcus kletterte weiter nach oben. Nicholas wünschte sich bei den Göttern, er könne sich einen Moment lang ausruhen, doch er wußte, gerade jetzt hatte er das gefährlichste Stück des Aufstiegs vor sich. Er mußte sich ein wenig herunterlassen und wieder nach oben steigen.
Mit brennenden Schultern und Beinen ließ er sich hinuntergleiten und merkte plötzlich, daß er festsaß. »Äh … Calis!« rief er.
»Was ist?« fragte der von oben.
»Ich habe da ein Problem.«
»Was denn?« fragte Marcus und blickte nach unten.
»Meine Füße sind höher als die Schultern. Ich kann die Füße nicht nach unten bringen und die Schultern nicht weiter nach oben schieben.«
»Bewegt Euch nicht«, rief der Elb. »Ich bin fast oben.«
Wenn Calis erst oben war, konnte er ein Seil herunterlassen und ihn hochziehen. Nicholas mußte sich nur lange genug festhalten.
Die Sekunden zogen sich dahin wie eine Parade von Schnecken auf einem Gartenweg. Nicholas zwang sich, auf den unnachgiebigen Felsen vor sich zu starren, denn sollte er nach unten sehen, würde er vielleicht abstürzen.
Panik begann in ihm aufzusteigen, und sein Fuß schmerzte jetzt so sehr wie nach dem Unfall beim Fußballspiel in Crydee. Er wollte seine Wade anspannen, damit es nicht mehr ganz so weh tat, doch das konnte er nicht, ohne dabei abzurutschen. Er schloß die Augen und dachte an Abigail.
Er erinnerte sich daran, wie er in jener Nacht vor dem Überfall mit ihr im Garten gesessen hatte, wie sich ihr Busen unter dem Kleid gewölbt hatte, erinnerte sich an ihre Locken, die im Fackellicht golden geglänzt hatten. Sie hatte nach Sommerblüten und Gewürzen gerochen, und in ihren blauen Augen hätte man ertrinken können. Er durchlebte den Moment ihres ersten Kusses noch einmal, und er spürte ihre Lippen auf seinen. Er mußte diese Klippen bezwingen, sagte er sich. Wenn er Abigail jemals wiedersehen wollte, durfte er sich nicht fallenlassen.
Da klatschte ihm etwas ins Gesicht, und eine Stimme rief: »Bindet es Euch um den Bauch.«
Nicholas öffnete die Augen, sah das Seil vor sich und griff mit der linken Hand danach. Er zog, und es wurde noch ein Stück heruntergelassen. Er drückte sich mit den Schultern hart gegen die Felsen, achtete nicht auf die Schmerzen, die ihm die zerkratzte Haut bereitete, und nahm das Seil in die rechte Hand. Unbeholfen band er es sich um den Bauch. »Ich weiß nicht, ob es hält.«
»Es ist nicht weit. Haltet Euch einfach auch mit beiden Händen fest.«
Er packte das Seil und rief: »Fertig?«
»Fertig«, kam die Antwort.
Nicholas ließ mit der linken Hand den Felsen los und packte das Seil, als seine Füße den Halt verloren. Plötzlich hing er am Seil und dreht sich. Er schwang gegen den Felsen und verkratzte sich das Gesicht. »Zieht!« schrie er.
Schneller als er gedacht hatte, ging es nach oben. Und rasch erreichte er den Rand der Klippe, wo ihm zwei braune Augen entgegenstarrten.
Die Ziege blökte überrascht und lief davon, während Nicholas über die Kante gezogen wurde. Er wälzte sich auf den Rücken und sah in den blauen Himmel. Dann versuchte er sich aufzurichten.
Jeder Muskel tat ihm weh, und er schrie vor Schmerz auf.
»Beweg dich nicht«, warnte ihn Marcus. »Lieg nur da und ruh dich aus.«
Nicholas drehte den Kopf und erblickte Calis, der ein Stück entfernt stand und das Seil wieder hinunterließ. »Hat er mich allein hochgezogen?«
Marcus nickte. »Er ist viel stärker, als ich dachte.«
Calis sagte: »Ich habe eben ungewöhnliche Eltern.« Ohne weitere Worte nahm er Marcus sein Seil ab und knotete es fest mit seinem eigenen zusammen. Daraufhin legte er es auf dem Boden aus und untersuchte beim erneuten Aufwickeln jeden Zoll aufs
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